Foto: Tristan (Jonas Kaufmann) stirbt © Wilfried Hösl
Text:Roland H. Dippel, am 30. Juni 2021
Nicht zum ersten Mal bedient sich Krzysztof Warlikowski für seine Inszenierungen cineastischer Paraphrasen. Małgorzata Szczęśniak setzte ihm den holzvertäfelten Salon der Titanic auf die Bühne des Münchner Nationaltheaters, mit Hirschköpfen an den Wänden. Darunter posieren sieben Hornisten zu Richard Wagners lupenrein intoniertem „Halali“ – auch andere Instrumentalsolisten spielen in diesem magisch-unmöglichen Musikdrama einer metaphysischen Selbstentgrenzung auf der Bühne. Statt der von Wagner beschworenen „Nacht der Liebe“ senkt sich immer wieder eine Wand zwischen die prosaische Welt des „Tages“ und den todessüchtigen Kosmos der Titelfiguren. Große Möwen fliegen zum Horizont. Kamil Polaks Blüten-Projektionen explodieren psychedelisch zur sich entfaltenden Wirkung des Liebestranks. Münchens Operntraumpaar der nach dreizehn Spielzeiten endenden Intendanz von Nikolaus Bachler ist auch in Videos zu sehen, mit denen Warlikowski Lars von Triers „Tristan“-Paraphrase „Melancholia“ in Wagners Partitur-Uterus zurücknabelt: Auf der Projektionsfläche verdoppelt sich das Paar, seine sehnsuchtsvollen Blicke nach oben und die Gelassenheit in der Katastrophenerwartung. Auf der Bühne parlieren die Sänger – Isolde in Rot und Gelb, Tristan in Schwarz und Weiß.
Reichlich viel Brimborium macht das Produktionsteam, für welches das Publikum der Premiere zur Eröffnung der Münchener Opernfestspiele den Applaus zurückhielt und nicht einmal Lust auf Buh-Rufe hatte. So zeigte sich die programmatische Kontinuität der Ära Bachler wie in der Foyer-Ausstellung „Sphinx Opera“ von Alexander Kluge: Die Diversität künstlerischer Handschriften war Programm, der Blick auf Welt und Umwelt sezierend. Die halbnackten Cowboys im Motelzimmer von Warlikowskis „Eugen Onegin“-Inszenierung wurden für die Ära Bachler ein vergleichbar repräsentierendes Bild wie der Tyrannosaurus in Richard Jones‘ „Giulio Cesare“-Inszenierung für die Amtszeit seines Vorgängers Peter Jonas. Auf dramaturgisch fundierter Basis war Oper seit 2008 in oft bestechender Ausführung ein Spiegel widersprüchlicher Zeitphänomene.
Regie-Erfolge mit dem am Münchner Hof- und Nationaltheater 1865 uraufgeführtem Musikdrama „Tristan und Isolde“ sind eher selten. Diese Erfahrung macht auch Warlikowski. Dass die Figuren allesamt kriegstraumatisiert sind, bleibt blässliche Konzept-Frischhaltefolie wie Szczęśniaks zwar attraktive, aber wenig signifikante Kostüme. Platt wirkt auch, dass es sich beim Liebestrank um eine hochkonzentrierte Substanz handelt. Mittels Spritze will sich das Paar vor Tristans Verwundung abschießen. Nach Tristans Tod bleibt für Isolde nur der Alleingang ins ungewisse Nirwana. Das verkleinert Wagners nebulösen wie transzendenten Schwall von Textfetzen und Musikrausch. Das letzte Lächeln des Paars auf der Leinwand aber verklärt.
Prägnant geraten die Nebenfiguren: Mika Kares‘ vollmundig gesungener, als Figur aschgrauer König Marke neben Wolfgang Kochs prachtvoll grobschlächtigem Kurwenal, Sean Michael Plumb als unauffällig fieser Melot und vor allem eine Bilderbuch-Brangäne. Okka von der Damerau ist der Beweis, wie genau an der Bayerischen Staatsoper in den letzten Jahren Quellentexte gelesen wurden: Sie ist Freundin, Unglücksbotin und sogar die in Gottfried von Straßburgs mittelalterlichem Epos beschworene Ärztin Minne. Sie entwickelt mitreißende Höhenstrahlkraft, mit der sie sich bestens für ihr Debüt als „Walküre“-Brünnhilde in Stuttgart empfiehlt.
Naheliegend mündet die gemeinsame Erfolgskette von Anja Harteros und Jonas Kaufmann an der Bayerischen Staatsoper in die mit Hochspannung erwarteten Partiendebüts. Wer wagt, gewinnt: Beide als Paar und für sich sind persönlichkeitsstark, souverän, faszinierend. Dieses phänomenale Teamwork speist sich mehr aus intelligenter und sensitiver Präsenz als aus der Regie. Isolde und Tristan stehen „nur“ nebeneinander. Oft suchen sich die Hände und stocken vor der Berührung. Drei Millimeter sind so nah und doch so fern. Zur großen Liebesbegegnung sitzen Tristan und Isolde mit großem Abstand voreinander in abweisenden Fauteuils. Tristans zarter Kuss auf Isoldes Stirn – wie im Textbuch – ist die einzige Berührung in vier Stunden.
Kirill Petrenko, früherer GMD, tritt noch einmal vor den regelmäßig zum „Opernorchester des Jahres“ gekürten Klangkörper – und überrascht. Natürlich gibt es wieder die filigranen, koloristischen Akzente und Aufmerksamkeiten für Details. Diesmal überwältigen die ausladende, ja orgiastische Hingabe, die mit Weichheit und Nachdruck wogenden Forte-Ströme und Petrenkos wissende Liebe für Wagners Rauschwirkungen. Diesmal hilft er seinen großartigen Solisten nicht mit Transparenz, sondern durch ingeniös wandlungsfähige und auftrumpfende Glut. Die Stimmen baden und tauchen in den Chromatik-Orgien. Äußerst raffiniert ist das von Petrenko, weil Harteros und Kaufmann so ihre Stimmen nie über das Kräftepotenzial hinaus strapazieren müssen. „Tristan und Isolde“ endlich ohne vokale Kapitalumschichtung, Panikreaktionen und Ressourcenverschleiß. Kaufmanns bronziert-fahle Fiebermonologe sind rund in jeder Phrase. Er schießt nur ganz selten ins extrem laute große Forte auf. Harteros setzt pfeilgenaue Spitzentöne und findet für die großen Soli schillernde Ausdrucksfacetten. Dass die beiden über die Souveränität für die geistige Durchdringung des aberwitzigen Notenmaterials verfügen, weiß man. So ist auch diese Premiere der Bayerischen Staatsoper eine Spiegelung zerrissener Menschenbilder miteinem Traditionsbezug, dem Bachler mit Mozarts „Idomeneo“, einem anderen in München uraufgeführten schwierigem Werk, als letzter Neuproduktion seiner Amtszeit Nachdruck verleiht.