Foto: Gegen die Regime der Angst: Anna-Lena Elbert als Lena © Bayerische Staatsoper
Text:Roland H. Dippel, am 20. Juni 2020
Diese Oper für Kinder ist kein Beziehungsdrama: Es geht um den Mut zum Kampf gegen den „Schweinehund“ in sich. Am Ende der Online-Uraufführung von „Spring doch“ rappelt sich ein vom Bus gestreifter Igel auf und reckt das Schild „Für diesen Film kamen keine Tiere zu Schaden“ in die Höhe. Das zeigt den hintergründigen Ernst und die feine Ironie der Macher. Die Anspruchslatte für die Zielgruppe ab sechs Jahren hängt aber ziemlich weit oben, weil der Konflikt der Hauptfigur durch gesteigerte epische und dialektische Ansprüche an erzählerischer Kontur verliert. Wie so oft sitzt die Sportbremse Lena (Anna-Lena Elbert) im Unterricht als letzte auf der Bank, weil niemand sie in der Spielmannschaft haben will. Obwohl Lena nicht schwimmen kann, schießt es ihr durch den Kopf: Sie wird den Sprung vom Dreimeter-Turm wagen. Für diese sich selbst verordnete Mutprobe begibt Lena sich in Richtung Schwimmbad, in die mit Graffiti verunzierte Umkleide und dann zum Becken mit dem Sprungbrett in drohender Höhe. Den angstbesetzten Weg zum Ziel, dem echten und symbolischen Sprung aus der Loser-Situation, zeigt die Oper aus Lenas subjektiver Perspektive in 35 Minuten, Alltagsimpressionen inbegriffen: Zwischen Wäscheständer und Kochtopf rotiert und sorgt sich der Vater in Küchenschürze (Martin Snell), eine alte Frau schwimmt ihre Bahnen mit zäher Gelassenheit (Stimme von Ann-Katrin Naidu). Fast wird Lena von Drohworten aus drachenartig vergrößerten Mündern weggepustet.
Das Team der digitalen Uraufführung und der auf den 4. Dezember 2020 in den Rennertsaal der Bayerischen Staatsoper verschobene Theaterpremiere begnügte sich für den Online-Start nicht mit dem Transfer einer Aufzeichnung der Inszenierung. Handicaps durch die nötig werdenden Änderungen vom dreidimensionalen in den filmischen Spielraum wurden sinnfällig genutzt. Gordon Kampes Partitur, die sich mit Ausnahme zweier Direktanleihen bei Mozarts Königin der Nacht und Puccinis Lauretta-Solo von Zitaten freihält, ermöglichte dafür einen rhythmisch und rezitativisch pointierten szenischen Parcours. Diesmal ist das Schwimmbad nicht Schauplatz von Begegnungen Heranwachsender wie in Andri Beyelers „the killer in me is the killer in you my love“, sondern Forum einer Aktion, die das Klarkommen mit sich selbst und anderen bereinigen soll. Kampes Oper ist die zweite Vertonung von Beyelers Text. Eine Koproduktion mehrerer Schweizer Theater mit der Musik von Sandro Corbat und der Choreographie von Tina Beyeler entstand 2016.
Die in David Böschs Film nicht angestrebte Perfektion ist Vorsatz. Die Farbgestaltung meidet grelle Akzente für die sehr maßvolle Darstellung von Lenas wechselnden Gefühlen und Ängsten. Man verweigert sich fast gänzlich der dem Animationsgenre implantierten Strategie des Mickey-Mousings. Weitaus häufiger sind in „Spring doch“ Verfremdungen aus der wahrnehmbaren Disproportion von Lautstärke und Bewegungsdauer der Figuren und Aktionen. Der Sprung vom Theater in die digitale Welt gelingt auch deshalb, weil Bösch sich im Film von einem theatral gedachten Umgang mit der Zeit löst. So entwickelte er für Lenas Entscheidung und ihren Weg zum Ziel eine von seinen Ausstattern Patrick Bannwart und Falko Herold realisierte visuelle Animationspartitur. Die physisch echte Lena könnte sieben, zwölf oder siebzehn Jahre alt sein. Die junge Sopranistin Anna-Lena Elbert bleibt die Ruhe selbst, bewegt sich meist langsam vor und zwischen den Bild-Choreographien. Weniger Lenas sprechende Augen als ihre Blickrichtungen sind die Verbindungsgeraden zwischen Animation und „realen“ Personen.
Drehungen, Zooms, Wechsel zwischen Schwarzweiß und Farbe sowie Spiegelungen in Brillengläsern und die von Lenas Klassenkamerad Tom (George Vîrban) expressiv hochgerissenen Krücken reihen sich zur wirkungsvollen Bilderfolge. Lenas Zaudern durchmisst die einzelnen Stationen mit bedachter Entschleunigung. Die Bedeutungstiefe von Gedanke, Tat und innerer Befreiung erfährt eine sich fast verselbständigende Verallgemeinerung.
Oper ist mehr als Schöngesang: Lena hat keine Arie. Der Vater poltert, wenn es nicht täuscht, in Strophen und die Kinderstimmen der Schule für Chorkunst (Leitung: Maxim Matiuschenkov) dürfen zur bedrohlichen Meute werden. Die hier aufscheinende Orffsche Manier verlässt Kampe schnell mit geschmeidiger und nicht immer sonderlich variantenreicher Ton-Behandlung (Klavier: Alessandro Stefanelli; Schlagzeug: Thomas Würfflein). Andreas Fellners umsichtige musikalische Koordination kann im Film nicht auffallen. Dabei liegt es gerade an ihm, dass die Visualisierung so wirkt, als wären Musik und Drehbuch in synergetischer Übereinkunft entstanden. Das Video nimmt für den Weg von Lenas Idee bis kurz vor der Ausführung eine wenig emotionale, eher dokumentierende Haltung ein. Deshalb gilt der gute Eindruck in erster Linie der technisch-dramaturgischen Bewältigung.