Foto: German (Viktor Antipenko, vorn) sieht in jeder Frau nur noch das Sexsymbol, das seiner Lisa gleicht. © Isabel Machado Rios
Text:Detlef Brandenburg, am 11. Dezember 2022
Man kann der erst 28 Jahre jungen Regisseurin Ariane Kareev eines wahrlich nicht nachsagen: dass es ihr an Ideen mangelte! Was sie da zusammen mit ihrer Bühnenbildnerin Lina Oanh Nguyễn und der Kostümbildnerin Mechthild Feuerstein an pittoresken Gestalten, turbulenten Aktionen, symbolischen Assoziationen und popbunt flimmernden Video-Bildideen (Konrad Kästner) über der Bühne des Staatstheaters Kassels ausschüttet, das kann einen schier schwindelig machen. Aber dem psychedelischen Bildersturm fehlt der semantische Fokus. Und das führt bei einer ihrerseits in den Bedeutungsebenen changierenden, zwischen Schauerromantik, Sozialkritik und Gefühlssentiment irrlichternden Oper schnurstracks in den kunterbunten Beliebigkeits-Overkill.
Vom Realismus zurück zur Schauerromantik
Tschaikowkys „Pique Dame“ ist so eine Oper. Sie entstand nach Puschkins Erzählung gleichen Titels, einem Schwellenwerk des psychischen Realismus, das in klarer seelisch-sozialer Faktizität die Geschichte des Parvenüs German schildert, der der Großmutter seines Freundes Tomski, einer sinistren Gräfin, das Geheimnis von drei unfehlbar gewinnenden Spielkarten entlocken will und sich dazu an deren Zofe Lisaweta heranmacht. Es ist erstaunlich, wie Tschaikowskys Bruder Modest in seinem Libretto diese Vorlage in ein schauerromantisches Liebes- und Todesdrama der E.T.A.-Hoffmann-Tradition zurückverwandelt: Die Gräfin wird zur Großmutter der damit ebenfalls adeligen Lisa, aus German macht er einen zwischen Amour fou und leidenschaftlicher Spielsucht unheilbar zerrissenen Charakter, statt einer Leiche (der Gräfin) sind nun gleich deren drei (auch Lisa und German) zu beklagen. Und es ist wiederum faszinierend, wie genau, in einem breiten Spektrum von Feinfühligkeit bis lodernder Leidenschaft, Peter I. Tschaikowskys Musik dem zerrissenen Seelenleben der beiden Liebenden nachspürt.
Dass eine Regisseurin in so einer Oper eher die Phantasmagorie als die Psychologie sucht, ist nachvollziehbar. Aber im Theater braucht auch die Phantasmagorie einen thematischen Fokus. Und der irrlichtert bei Ariane Kareev ziemlich orientierungslos im Werk herum. Anfangs fixiert sie in grell aktualisierenden Bildern ein Neokapitalismus-kritisches Thema: Videos von Status-Symbolen der Superreichen flimmern über einen Screen, die grünliche zweistöckige Architektur der Anfangsszenen („Frühling. In Petersburg im ,Sommergarten‘. Kleiner Platz“) könnte der Innenhof eines Ko-Working-Spaces sein, gespickt mit Börsenkursen und Währungssymbolen. Young Upper Professionals geifern nach Geld, die Video-Animation lässt Goldmünzen aus einem Tresor regnen, Tomskij ist ein Videoblogger, der die einzig wahre Börsenstrategie zum Dollarregen anpreist, die nur die Gräfin kennt: drei Karten, drei Karten, drei Karten… Und auf einem Steg, der in den Zuschauerraum hineinragt, schmachtet German diese grelle Kapitalismus-Orgie an: Er will auch mitspielen beim Spiel des großen Geldes.
Fuck You Money!
Die erste intime Begegnung von Lisa und German findet dann nicht in Lisas Zimmer statt, sie folgt hier vielmehr auf einen Junggesellinnen-Abschied vor ihrer Hochzeit mit dem Fürsten Jeletzkij: Lisa flieht mit ihren Freundinnen aus dem Haus und rebelliert draußen sogar gegen die Dominanz des großen Geldes. „Fuck You Money“ sprüht sie auf die Haustür, bis Security-Leute in Schwarz dem Treiben ein Ende machen. Auf dem Rückweg trifft sie dann German auf der Straße. Und nach dem Liebesgeständnis (am Schluss des ersten Aktes) wird Lisas Gesicht in einer Videoprojektion grell geschminkt und gebotoxt – sie mutiert in Germans Fantasie zum Sexsymbol, das er fortan in jeder Frau sieht. Nun trägt fast der komplette Chor Lisas rotes Kostüm mit dem Botox-Mund als Applikation. Schon vorher wirkte die Inszenierung in ihrem Symbol-Overkill kunterbunt und redundant. Nun aber driftet sie ab in eine grelle Innenschau von Germans überspanntem Innenleben. Völlig desplatziert wirkt schließlich die Umsetzung des Intermezzos durch zwei Vertikalseil-Akrobaten. Die beiden Jungs können zwar prima turnen. Aber die ironische Kontrafaktur des Liebesdramas durch ein bewusst kitschig-altmodisches Schäferspiel, die auch besser zum altmodischen Mozart-Sound gepasst hätte, den Tschaikowsky dazu komponiert hat, wird preisgegeben. Spätestens hier verfestigt sich der Eindruck, dass die Regisseurin zwar viele Einfälle hat, aber leider nicht zwischen den guten und den weniger guten unterscheiden mag.
Seelenmusik
Das kann man dem Dirigenten nicht nachsagen. Ursprünglich sollte der Generalmusikdirektor Francesco Angelico die Premiere leiten, für ihn war aber nun der koordinierte 1. Kapellmeister Kiril Stankow eingesprungen – so kurzfristig, dass sein Name im Premieren-Programmheft handschriftlich nachgetragen werden musste. Die Gründe dafür waren auch auf Nachfrage nicht zweifelsfrei zu eruieren. Ein Verlust war das aber nicht, denn Stankow, ohnehin in die Proben eingebunden und für Nachdirigate vorgesehen, hat im Gegensatz zur Regie eine bemerkenswert klare Vorstellung davon, wie „Pique Dame“ musikalisch umzusetzen ist. Statt, wie die Bühne, grell aufzutrumpfen, ließ er das Staatsorchester Kassel über weite Strecken geradezu kammermusikalisch zart musizieren, nachgiebig in der Agogik, schlank im Ton, sehr ausdrucksvoll, meist auch gut koordiniert. Manchmal nuschelte das Orchester allerdings doch allzu gemütlich vor sich hin, mitunter hätte man sich mehr phantasmagorisches Feuerwerk auch aus dem Graben gewünscht. Aber überwiegend brachte das die seelische Einfühlsamkeit der Musik sehr gut zur Geltung.
Und es kam den Sängerinnen und Sängern zugute, die meist nicht unbedingt große, aber sehr wohlklingende Stimmen hören ließen, ohne sich zum Wettgebrüll hochzuschaukeln, wie man es in den kompliziert geschichteten Ensembleszenen dieser Oper durchaus schon erlebt hat. Viktor Antipenko war als Gast der Star des Abends: ein Tenor von „italienischer“ Stilistik, metallisch klar, schlank, technisch vorzüglich geführt, nur in den höchsten Ausbrüchen bisweilen angestrengt, hochpräsent bis zum Schluss. Eine tolle Leistung! Margrethe Friedheim, seit 2021 Ensemblemitglied in Kassel, war ihm eine Lisa auf Augenhöhe: ein jugendlich heller, weicher, fast „weißer“ Sopran mit lyrischer Elastizität und dramatischer Power. Ausdrucksvoll und facettenreich sangen aber auch Filippo Bettoschi als Tomskij und Stefan Hadžić als Jeletzkij. Dass Ilseyar Khayrullovas Mezzo einen durchaus jugendlichen Klang hat, kam der Inszenierung zugute, die sie zwar zunächst als insektenhaft schillernde Krückstock-Alte zeigte, die dann aber zum Sexsymbol in rot-transparenter Chiffonrobe mutierte und so eher als Schwester denn als Großmutter Lisas erschien. Fast das komplette Ensemble war aus dem Haus besetzt, und sie alle, ebenso wie die von Marco Zeiser Celesti betreuten Chöre, machten ihre Sache wirklich gut.
Musikalisch war das beeindruckend. Und weil man der Inszenierung zumindest eines nicht absprechen kann, nämlich dass es auf der Bühne jederzeit äußerst unterhaltsam zuging – deshalb war das Publikum am Ende hochzufrieden und applaudierte dem Regieatem und dem Dirigenten, den Sängern und den Turnern restlos begeistert.