Foto: Szene aus David Hermanns Inszenierung von Helmut Lachenmanns "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern". © Bernd Uhlig
Text:Detlef Brandenburg, am 16. September 2012
Immer wieder, wenn man die seltene Gelegenheit hat, Helmut Lachenmanns 1997 an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführtes Musiktheater „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zu erleben, fragt man sich, wie viel Theater dieses Referenzwerk, wie viele Bilder diese „Musik in Bildern“ (so der Untertitel) überhaupt braucht. Denn genau das ist für jeden Regisseur ja das Problem: dass die Bilder schon in der Musik sind, ganz konkret, als Klangereignis in diesem einzigartigen Kosmos an der Grenze zwischen Musik und Geräusch. Das Lippenbeben des frierenden kleinen Mädchens, das Hans Christian Andersen in einer frostigen Silvesternacht auf Irrfahrt in den Tod schickt; das Ritsch des Anreißens und die Flamme des Zündholzes, bei der es ein wenig Wärme sucht; das Hereinbrechen eines Textes von Gudrun Ensslin, auch sie eine Ausgestoßene einer kalten Gesellschaft und auf ihre radikale Weise selbst ein Zündholzmädchen; die klingenden Visionen, die ihr in den kleinen Flammen aufscheinen, der klingelnde Kaufladen, das Abendfunkeln des Sternenhimmels, die machtvolle Transzendenz der Himmelfahrt – all das ist da und die Geschichte dazu, auch deren weit ausgreifende Assoziationsräume, die Lachenmann durch Zitate von Ensslin und Leonardo da Vinci aufspannt.
Gegenüber diesem musikalisch konkreten, semantisch aber sehr weit offenen Klang- und Bedeutungsreichtum wirken optische Bilder und Aktionen ganz schnell banal, aufdringlich, kitschig. Während allein das Musizieren des riesigen, räumlich aufgestellten Orchesters eine hohe theatrale Qualität hat; es ist fast schon dramatisches Abenteuer genug, den Musikern bei der Klangerzeugung zuzuschauen. Vielleicht also braucht es da gar keine weiteren Bilder? Weder die Inszenierung von Achim Freyer in Hamburg noch die von Peter Mussbach in Stuttgart konnte diese Frage wirklich schlagend beantworten, schon bei der Uraufführung war die Szene eine eher atmosphärisch wirksame Zutat gewesen, ohne starke interpretatorische Dimension. Da hat nun David Hermann, dessen Inszenierung den mutigen Auftakt zur Intendanz von Dietmar Schwarz an der Deutschen Oper Berlin bildete, einen weitergehenden Ehrgeiz: Er will etwas Eigenes erzählen und der Musik neue Bedeutungsdimensionen hinzufügen. Und anfangs hält er das Geschehen tatsächlich derart geschickt in einer assoziativen Schwebe, dass man an ein Gelingen glaubt. Doch dann erzählt er zuviel, zu aktionistisch, zu anekdotisch – und verschenkt die Chance.
Eindrucksvoll ist, wie die Allgegenwart des riesigen Orchesters den Anblick der Bühne mitbestimmt. Wobei – was heißt hier „Bühne“? Schließlich wird hinter dem Eisernen Vorhang der Deutschen Oper noch renoviert, die neue Technik wird erst am 21. Oktober mit Philipp Stölzls „Parsifal“ in Betrieb genommen. Auf dem überbauten Orchestergraben aber, rechts und links an den Seiten, auf den Rängen im Auditorium, überall sitzen Chorsänger und Orchestermusiker. Und mitten auf der Vorbühne steht Christof Hetzers imposanter dreistöckiger Bühnenaufbau, den man das als Querschnitt durch ein bürgerliches Wohnhaus lesen könnte: Unten im Wohnzimmer steht ein Flügel, in der Etage darüber hat ein Mann, womöglich der Hausherr, sein Hobbyzimmer mit Videosammlung, auf dem Dachboden treibt offenbar ein Kind verbotene Dinge. Die beiden braven Töchter unten im Klavierzimmer aber, beide in Pullover und Faltenrock, entdecken einen Notenband, aus dem die Klänge von Lachenmanns Musik unmittelbar hervorzudringen scheinen. Und diese Klänge lassen sie erschauern: Der Frost, der in ihnen ist, scheint auch in dieses Haus längst eingezogen zu sein. Papa jedenfalls schaut oben im Hobbyraum ziemlich seltsame Videos, fast sieht es aus, als habe er die Ermordung einer blonden Schönen gefilmt, deren Körper er im Regal verwahrt.
Wobei das alles aber viel vager bleibt, als es sich hier aufschreiben lässt – genau das ist anfangs die Stärke der Inszenierung: Sie ist konkret genug, um Interpretationsangebote zu machen, in ihren Rätselbildern und den von Sommer Ulrickson choreografierten Slow-Motion-Aktionen zugleich aber so surreal, dass alles auch ganz anders sein könnte. Auch dass Hermann und Hetzer die soziale Kälte, die Lachenmann Klang werden lässt, ins bürgerlich-häusliche Milieu projizieren, macht ja Sinn: Genau hier, in der Privatsphäre, wird die Inhumanität der Konsumgesellschaft internalisiert und erlitten, genau hier bringt sie ihre unterdrückten, angepassten oder eben ihre revoltierenden Kinder hervor. Doch wenn dann das dritte Mädchen wie eine Manga-Kriegerin durch die Luftschächte turnt, mit einem schwarzen Gegner kämpft und auf dem Dachboden Chemikalien mixt; wenn schwarze Asche unten ins Klavierzimmer weht und ein „nasser Onkel“ (so heißt er wirklich im Programmheft) in Kaufhaustüten Sektflaschen und Silvesterfeuerwerk hereinbringt – dann verliert sich Hermann heillos im anekdotischen Aktionismus, der quer zur Musik steht. Und wenn er schließlich bei der Himmelfahrt die Großmutter als leibhaftige fernöstliche Traditionsikone auf die Bühne stellt und die Manga-Maid allen Ernstes in ein Sternenhimmel-Video entschweben lässt, während auf dem Screen links der Videomann seine blonde Schöne ins Wasser treibt – da hilft dann alles nichts mehr, dann sind wir beim tumben Kitsch angekommen. Schade!
Musikalisch aber war auch diese Aufführung wieder ein Hörerlebnis, wie man es sonst kaum je in der Oper erleben kann, wofür in allererster Linie Lothar Zagrosek verantwortlich zeichnet, der bereits die Hamburger Uraufführung und die Stuttgarter Produktion 2001 leitete und das Geschehen auch diesmal mit Respekt einflößender Souveränität koordinierte und vor allem animierte. Was in diesem Fall wohl besonders schwierig war, weil die beiden extrem geforderten Solosopranistinnen Hulkar Sabirova und Yuko Kakuta zugleich auch die beiden Klaviermädchen spielten – und auswendig singend wirklich Phantastisches leiteten. Dass man die Zuspielung der Ensslin-Texte und manche rhythmische Verzahnung von anderen Aufführungen prägnanter in Erinnerung hatte, mag den speziellen akustischen Gegebenheiten an der Deutschen Oper geschuldet sein, wo das Orchester sehr weit auseinandergezogen saß und in dieser schwierigen Situation gleichwohl empathisch und klanglich dicht agierte in all den Artikulationsextremen, die Lachenmann ihm abverlangt. Man spielte die bereits in Tokio und Salzburg aufgeführte Neufassung, in der der Da-Vinci-Text nicht mehr in Gestalt der Komposition „Zwei Gefühle“ erscheint, sondern nahezu unbegleitet wie eine dadaistische Sprech-Arie hervortritt und dadurch etwas heterogen bleibt – hier und in einigen anderen Details wirkt die Erstfassung vielleicht doch kohärenter. Wie auch immer: Es war, auch dank der enormen Vorbereitungsarbeit, die neben Zagrosek der Chorleiter William Spaulding und der für die musikalische Einstudierung mitverantwortliche Matthias Hermann leisteten, ein grandioses Musikerlebnis und ein starker Start für den neuen Intendanten Dietmar Schwarz.