Foto: Maria Schrader (Martha) und Devid Striesow (George) in Karin Beiers Albee-Inszenierung © Arno Declair / Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Text:Jens Fischer, am 21. Januar 2019
Die bis zu den Brandmauern aufgerissene Bühne bietet reichlich Platz für die Leere, um die sich die Lebenslügen und das Erfolgsstreben der Kombattanten drehen. Der gottlose Himmel schweigt zwar wieder einmal, in Planetenanmutung am Bühnenhimmel hängende Lampions illuminieren aber apart farbwechselnd die irdische, scheinbar ausweglose Ehehölle. Ausgestellt auf einem Podest in der Bühnenmitte wird sie. Theater auf dem Theater. Einheit von Ort und Zeit. Und ein fettes Zeichen, das Bühnenbildner Thomas Dreißigacker phallisch die Raumhöhe durchmessen lässt: ein Baumstamm. Verweis auf das Objekt, an dem laut eingewobener Erzählungen der Vater/Schwiegervater und imaginäre Sohn des Protagonistenpaares ihren Odem aushauchen? Oder kahler Hinweis auf die ausbleibende Erlösung wie in „Warten auf Godot“? Schließlich wird ein Stück des amerikanischen Beckett geben: Edward Albees Kammerspiel „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, Vorbild aller dramatischen Beziehungsschlachten. Das auch nach fast 60 Jahren kaum gealtert scheint und geradezu zeitlos aktuell auch in heutigen Vorstadtvillen funktioniert, wie Karin Beier mit ihrer Inszenierung am Deutschen Schauspielehaus beweist. Indem sie die Tragödie der bürgerlich-heiligen Lebensbund-Vorstellungen vernachlässigt – zugunsten der Liebesgeschichte.
Devid Striesow gibt den Geschichtsdozenten George als anfangs müden Zyniker, bald durchtriebenen Spielmacher. Maria Schrader ist Gattin Martha, eine virile Macht-Furie. Von einem Empfang kommen sie heim auf ihre Bühne. Mehr als nur angetrunken. Kippen gleich nochmal nach. Verkriechen sich auch gar nicht erst in Lauerstellungen, sondern feuern gleich ungeschützt los. „Ich finde dich zum Kotzen“, sagt sie. Und er tanzt ihr provozierend vor, sechs Jahre jünger als sie zu sein. Bald feuert sie Formulierungen wie „Wichser“ und „leck mich“ ab. Er spuckt sie verächtlich an. Schon im Programmheft findet das unvorbereitete Publikum „Warnhinwiese“: Es käme zur „Verwendung teilweise expliziter, nicht gendergerechter Sprache“ und „regelmäßig zur Darstellung häuslicher Gewalt“, auch würden „lebensgefährliche Mengen alkoholischer Getränke“ konsumiert. „Wir danken für Ihr Verständnis und versichern Ihnen, dass dafür unter keinen Umständen Nackte zu sehen sein werden.“ Also keine nackten Körper, nur entblößte Seelen.
Diese Peep-Show funktioniert nicht ohne Publikum. Geladen hat Martha den Jungakademiker Nick (Matti Krause) samt Gattin (Josefine Israel). Die wird bei Albee noch mit einem Hauch Liebreiz Honey genannt, in Hamburg ist sie einfach die „Süße“, „Doofie“ und so weiter, ein Klischee weiblicher Mäuschenhaftigkeit. Brandy kippt und kotzt sie. Tapert auch somnambul herum und räsoniert über Kinderwunsch und Abtreibung. Ihr Gatte bekommt etwas mehr Raum, bleibt aber auch ein Klischee – des gefühlskalten Karrieristen. Mit tänzerischem Erotismus geht er auf die Avancen der Hausherrin ein und erquickt sie sexuell. Schließlich ist Martha die Tochter seines Arbeitgebers, nämlich Rektor des Colleges. Zu spät bemerkt Nick, nur Statist in der Performance seiner reizbaren Gastgeber zu sein, die ihre Ehe als Farce darbieten. Der eben aufgeführte Akt hieß: „Fick die Hausfrau“. Weitere folgen.
Immer wieder neu fordern George und Martha einander wie Boxer heraus, machen sich locker und schlagen zu. Verhöhnen, bloßstellen, verachten, beleidigen, demütigen – Worte funktionieren wie rechte Haken. Schwer atmend gehen die Duellanten zwischen den Hass-Runden zum Durschnaufen an den Barservierwagen. Wüst und routiniert läuft das ab und wird zunehmend noch wie ein Improtheaterabend vitalisiert, indem Einwürfe und Ausführungen der zwei staunenden Zuschauer in den scharfzüngig rüden Umgang einbezogen werden: „Gib’s den Gästen“ heißt dieser Akt. Auch die letzten Reste von Anstand und Etikette, gesellschaftlichen Spielregeln und Tabus müssen vernichtet werden. Es ist eine diabolische Freude, dass sich Striesow und Schrader so hemmungslos in die Rollen stürzen, wie George „gut“ steigert: „besser, am besten, bestialisch“. Aber neben der virtuos ausgelebten Lust an forcierter Theatralität der ins Absurde getriebenen Attacken setzen sie auch auf differenzierende Untertöne. In kurzen wahrhaftigen Momenten schimmert Einverständnis durch über die Abgründe des Zorns und der Verzweiflung. Über einen Schmerz als Kraftwerk des Exzesses. Weswegen der Abend weniger zum Schenkelklopfen animiert, vielfach eher beklemmend wirkt.
Wenn Martha final von ihrem erträumten als realem Kind schwärmt, unterbricht George den Fabulierfluss mit seiner Erzählung vom plötzlichen Tod des Jungen. Nick versteht sofort. „Sie können keine Kinder kriegen“, wirft er Martha mitleidig zu. Der aggressive Schlagabtausch, so macht Beier überdeutlich, war nur liebevoll hilflos von George mitgestaltetes Arrangement, um einen Umgang mit Marthas traumatisierten Mutterwunsch zu finden. Beider Theaterspiel vor Gästen ist aber nun Mittel zum Zweck der Ent-Täuschung geworden. Geradezu Marthas Psychotherapie, um zukünftig ohne (Kinder-)Illusion leben zu können. Vor Angst zitternd steht sie da. Georg nimmt sie zärtlich in den Arm. Beide wirken befreit. Nicht voneinander, sondern füreinander. Ein Triumph fürs Ensemble – und die präzise Regie.