Foto: Chor, Alexander Franzen als Cacambo, Csilla Csövari als Cunegonde, Nazide Aylin als Ensemble, Dagmar Hellberg als The Old Lady, Gideon Poppe als Candide © Thomas Dashuber
Text:Wolf-Dieter Peter, am 18. Dezember 2015
„Wenn ich wüsste, dass morgen der jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“ konstatierte Martin Luther im 16.Jahrhundert – und der durch seine bestechenden Wissenschaftssendungen im Fernsehen unvergessliche Hoimar von Ditfurth wandelte 1985 für sein letztes Buch, in dem er all unsere derzeitigen Katastrophen prognostizierte, Luther leicht ab: „So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen“. Leonard Bernsteins Candide und das Ensemble des Gärtnerplatztheaters entließ uns alle mit „Wir werden uns ein Haus bauen und unser Holz hacken und unseren Garten bestellen“ – und dieser Satz der „komischen Operette“ wirkte eher wie die einzig realistische Botschaft der derzeit rundum unergiebigen Welt-Konferenzen.
Bernsteins anfangs wenig erfolgreicher und bis 1989 mehrfach überarbeiteter „Candide“ ist ein Werk für den fortgeschrittenen Musiktheaterfreund. Das Bühnenwerk entstellt das überragende Vorbild nicht: Voltaires „satirischen“, sofort verbotenen, öffentlich verbrannten und vom katholischen Index verdammten Roman von 1759. Darin entlarvt der brillante Spötter die zeitgenössischen Philosophen Pope und Leibniz samt ihrem Geschwafel von der „besten aller Welten“ und nähert sich Thomas Hobbes’ „Der Mensch ist des Menschen Wolf“. Eine reine „weiße“ Seele, eben Candide stolpert aus der realitätsfernen Hauslehrerphilosophie eines Schlosses in idiotisch blutige Adelsschlachten, wird zum Mörder an menschenverachtenden Honoratioren, überlebt die Lissabonner Erdbebenkatastrophe von 1755, ein katholisches Autodafé und flieht nach Südamerika; dort folgen Urwaldkatastrophen, aber auch die Utopie des glücklich-reichen Goldlandes „Eldorado“; nach Ausraubung, Schiffbruch und finanziellem Ruin erweist sich, dass Candide, seine Cunegonde und sogar Philosoph Pangloss trotz mehrfachem Tod irgendwie doch überlebt haben – und den Garten bestellen werden. Wie so vieles in unserer Welt trägt das Libretto Züge eines „Theaters des Absurden“ samt grell amüsantem „Tanz auf dem Vulkan“, vereint Satire, abgründigen Spott samt Entlarvung aller Religionen, Ideologien und deren Amtsträgern.
Dazu hat Bernstein eine Liebeserklärung an alle abendländische Musik komponiert: vom Syphilis-Walzer über schräge Alarm-Bläser hin zu Polka, Mazurka, spanischen Fandango- und Flamenco-Rhythmen bis zur Gavotte – gipfelnd in Cunegondes „Glitter an be gay“, die alle grandiosen Koloraturarien des 19.Jahrhunderts persifliert. Dazu kontrastieren dann die kurzen Klage-Arien Candides, in denen die Musik zu humaner Tiefe findet. Einzig richtig, dass sich der musikalische Chef des Gärtnerplatztheaters Marco Comin all dessen angenommen hat und mit dem Orchester perfekt differenziert aufspielte.
Das gelang, obwohl er und das Orchester auf einer Tribüne hinter einer transparenten alten Weltkarte und der vertieften Spielfläche davor postiert waren. Doch so wie schon die Moritatenbildchen von Bühnenbildner Rainer Sinell auf den Seitenwänden der Reithalle die Stationen von Candides „Welt-Er-fahr-ung“ bunt reihten, so vielfältig wurden auch alle Seitengänge, Treppen und Zentralbühne bespielt. Ex-Tänzer-Regisseur-Choreograph Adam Cooper brachte seine Londoner Erfahrungen mit und animierte das gesamte Ensemble zur überbordend quirligen „Welten-Show“. Rasant wechselten in Alfred Mayerhofers pfiffigen Kostümen Tänzer, Chor und die meisten Solisten in Mehrfachrollen von Europa über Südamerika, den Dschungel und Südostasien ins für das heutige Europa schon von Voltaire gewählte „Casino Venedig“. Alle wurden mit „Bravi!“ gefeiert, voran Alexander Franzen als Voltaire-Pangloss-Cacambo-Martin, die resolute „Alte Dame“ von Dagmar Hellweg, Erwin Belakowitsch als Baron Maximilian und x-facher Offizier, Juan Carlos Falcon und Holger Ohlmann in bis zu sieben Rollen. Gideon Poppe war eine Idealbesetzung für den naiv gutgläubigen „ewigen Jungen“ Candide und erfüllte dessen Klagen mit anrührender Verletzlichkeit in intim gesponnenen Piano-Phrasen. Doch wie das ganze Ensemble klatschte auch er seiner Partnerin Cornelia Zink am Ende: binnen zwei Tagen war sie in diese rasante Inszenierung samt turbulenten Kostümwechseln und Auftritten eingesprungen, brillierte mit Koloratur, Spitzentönen und fehlerlosem Rollenspiel.
Nach allem Beifall, Jubel und Bravo stellte sich in der Ruhe des nächtlichen Heimwegs dann auch die Erkenntnis ein, dass wir seit Luther, Voltaire, Ditfurth und Bernstein nichts an Demut und Bescheidenheit in und mit dieser unserer Welt dazugelernt haben – „Candide“ also als wär’s „Ein Stück von Heute“: bewundernswert und bitter.