Foto: Denis Wiencke in "Zwang des Materials" am Theater Paderborn © Christoph Meinschäfer
Text:Jan Fischer, am 21. September 2016
Allein der der Versuch ist Wahnsinn. Vier Menschen in Brautkleidern – drei Männer, eine Frau – stehen auf der Bühne in Paderborn. „Ich trage ein Brautkleid, weil ich verdammt nochmal die Freiheit dazu habe“, sagt einer der Männer irgendwann zwischendrin und steigert sich in eine Rede über Pluralismus und Demokratie, für die es Szenenapplaus gibt.
Aber erst ist da das Märchen vom Schäfer, der mit dem Erdöl in seinem Brunnen nichts anzufangen weiß und ihn zu einem Spottpreis an einen Touristen verkauft, der damit reich wird, was zu blutigen Auseinandersetzungen führt. Erst ist da auch die Geschichte des 13-jährigen Jungen, der sich dem „Islamischen Staat“ anschließt, weil er seine Familie anders nicht ernähren kann, und Jahre später bei einem Drohnenangriff der US-amerikanischen Armee stirbt. Die Geschichte des 11-jährigen Jungen, der nur deshalb kein Selbstmordattentäter wird, weil sein Vater ihn rechtzeitig in die Türkei schafft. Mal erzählen die vier am Mikro, machmal ohne, mal zieht sich einer eine Burka an, mal orangfarbene Häftlingsanzüge, mal werden die Geschichten von sirenenartigen Störgeräuschen unterbrochen, mal perlen sie übereinander, mal werden sie leise und ruhig auserzählt. Geschichten über Geschichten, erzählt von den vier Menschen in Brautkleidern, in dem Versuch, ein Mosaik zu erschaffen, das den IS erklärt, den Terror, die politische Situation.
Alleine, wie gesagt, der Versuch ist Wahnsinn. Über 1000 Akteure – groß, klein, Staaten, Dörfer – sind in den Konflikt verwickelt, so ist in einem der Faktenblöcke zu hören, die zwischen die Geschichten geschoben werden. Die Motive reichen von religiösen Fanatismus über Profitgier über Unzufriedenheit über materielle Not bis zu Selbstschutz. Alles in allem also: Der Konflikt, in dessen Kern der IS agiert, ist eine komplexe Situation, „hat Metastasen gebildet“, sagt jemand auf der Bühne, und ist entsprechend schwer nachzuvollziehen.
Die Inszenierung basiert auf dem Buch „ISIS Defectors: Inside Stories of the Terrorist Caliphate“ von Anne Speckhard und Ahmet S. Yayla, das 32 Interviews mit ehemaligen IS-Kämpfern versammelt. Das sind die Geschichten, an denen „Zwang des Materials“ sich entlang hangelt. Das Bühnenbild ist spärlich, viel leerer Raum, ein kleines, halboffenes Zimmer hinten links, Brautkleider. Die Geschichten schwingen darin, es gibt nicht viel auf der Bühne, das von ihnen ablenken könnte. Aber spätestens, als am Ende keine der Geschichten mehr auserzählt werden kann, weil die Störgeräusche sie immer wieder unterbrechen, wird klar: Auch das ist es nicht, auch dieses radikale runterbrechen komplexer Zusammenhänge auf individuelle Erlebnisse hilft nur bedingt weiter.
Kreuzhagens Inszenierung wirkt, alles in allem, roh und unfertig – eher eine Annäherung an eine Vielzahl von Ideen als eine Ausformulierung. Eher ein vorsichtiges Umkreisen, ein Herausarbeiten von nicht fertig gedachten Denkimpulsen als ein Vorstoß ins Herz der Problematik, wo auch immer das liegen mag. Letzendlich kann eine knapp 60-minütige, wenn auch intensive Inszenierung zum Thema IS und islamistischer Terror aber auch kaum mehr leisten als das. Und vielleicht ist dieses rohe, unbehauene eben auch genau der Kunstgriff, den es braucht, um sich allem anzunähern. Wie sonst wäre ein übergroßes, überwichtiges Thema sonst in den Griff zu kriegen, als dem Publikum unfertige Ideen mitzugeben, die es selbst zu Ende denken muss? So gesehen ist „Zwang des Materials“ zwar unfertig – aber dennoch ein Schritt dahin, eines der wichtigen Themen unserer Zeit besser zu verstehen. Denn zwar ist alleine der der Versuch schon Wahnsinn. Aber irgendjemand muss ihn ja unternehmen.