Foto: Burleske Szene aus Jiri Kilians "Sechs Tänze", dem dritten Teil des Ballettabends. © Martin Kaufhold
Text:Ulrike Lehmann, am 31. Oktober 2011
Durch ein Kaleidoskop betrachtet, sieht die Welt trügerisch bunt aus, phantastisch verzerrt in Farben und Formen. Ewig hat man nicht durch so ein Ding geblickt, und erinnert das bunte Prismenchaos doch gern und leibhaftig. Stephan Thoss hat seinen jüngsten Ballettabend am Staatstheater Wiesbaden ein „Magisches Kaleidoskop“ getauft – in Anlehnung an jene flüchtigen Eindrücke, die im Gewusel eines Tanzabends auf der Bühne aufblitzen und vergehen.
Mit dem Dreierabend „Testing Machine“, „La Chambre Noire“ (beides Uraufführungen von Thoss) und „Sechs Tänze“ (von Jirí Kylián) knallt der Ballettdirektor allerdings ein Kontrastprogramm auf die Bühne, das weniger magisch ist als überdeutlich kontrastieren will. Von außen wirkt das, als wolle Thoss dem Wiesbadener Ballettpublikum (das seinen eigenwilligen Stil inzwischen sehr wohl zu schätzen gelernt hat) noch immer entgegenkommen: Seichte Unterhaltung neben düsterer Abstraktheit, die bitteschön aber dann erklärt und irgendwie fassbar gemacht werden muss im Programmheft. Dass Thoss das – phantasiegesegnet und mit einer exzellenten Compagnie ausgestattet – wahrlich nicht nötig hat, bewies seine letzte Arbeit „Blaubarts Geheimnis“, die mit zweifacher FAUST-Nominierung (Beste Choreografie und Guiseppe Spota als Bester Tänzer) belohnt wurde.
Die Uraufführung „Testing Machine“ ist eine peppige Verkaufsshow, in der zwei exzentrisch zappelnde Showmaster (Ina Brütting und Sandro Westphal) durch einen ungewöhnlichen Möbelbelastungstest führen: Überdimensionale Möbelstücke – in skurriler Verformung ihrer Funktionalität beraubt – werden zum Tänzerturnplatz, der Mensch zur „Testing Maschine“. Ein Loch in der Sessellehne? Hüfte dran reiben und durchhüpfen. Ein extrem schiefes Sofa? Zu zweit herabgleiten. Ein Tisch mit unterschiedlich langen Beinen? Wird zum Stillleben mit zwei auf Stühlen querschwebenden Tänzern. Wie ein Präsentierteller dreht sich die Bühne, nummerierte graue „Testdummies“ wirbeln um die ihnen zugeteilten Produkte, und die Samba- und Tango-Rhythmen schwappen fast ins Publikum über.
Doch bald schmeckt die Komik fad, trotz köstlichem Gehabe der schwarzglitzernden Showmaster. Deren Kommentare sind leider überflüssiger Mischmasch aus Deutsch und Englisch, biedern sich der Hausfrau ebenso an wie dem undisziplinierten Theaterbesucher (raschelndes Bonbonpapier ist in Wiesbaden allerdings ein echtes Thema: Dort, wo exponiert im Foyer Kugelpralinen verkauft werden, mit deren Knisterfolie dann während der Vorstellung quer durch die Dunkelheit geraschelt wird…). Auch choreografisch gaben einzelne Möbelszenen wenig her (Bett, Teppich), so dass sich die witzige Idee leerlief.
Pause, dann der Gegenpol mit „Le Chambre Noir“. Düster ist’s, ein einziger Scheinwerfer hängt herab, und die Verteilung aller Kräfte hat ein klares Zentrum: Guiseppe Spota. Mit nacktem Oberkörper und langer weißer Stoffhose quält sich der Ausnahmetänzer durch eine Sphäre von Bedrohung und Überlebenskampf. Im Scheinwerferkegel stehend, schmerzt ihn das Licht, führt zu winzigen Krämpfen, im Dunkeln wirken seine langsamen Armbewegungen und Schritte wie mühevolle Ausweichmanöver vor den um ihn tanzenden schwarzen Gestalten. Zusammengebrochen am Boden liegend – schwer sich mit auswärts gedrehten Handgelenken auf allen Vieren hochstützend – ist er eine schuldlos gebrochene Kreatur. Wie überhaupt manche Gesten der übrigen Tänzer tiefe Resignation vermitteln: eingefallene Schultern, gekrümmte Rücken, kaum geht eine Streckung bis in die Fingerspitzen. Kurz brechen Explosionen mit Krachen und Quietschen in die Klangcollage aus Bach und Mendelssohn-Bartholdy ein, zerbersten die tröstlichen Streichermotive. Brutal ist die dunkle Wahrheit.
Im dritten Teil, Jirí Kyliáns „Sechs Tänze“ (nach Mozarts „Sechs Deutsche Tänze“, KV 571), zeigt die Compagnie technisch anspruchsvolle Präzision. Flink reiht sich in diesem 1986 uraufgeführten Meisterwerk eine burleske Szene an die nächste, verspielte Pas de Deux und neckische Ensembleszenen blühen ganz im Mozart’schen Humor auf. Nicht nur beim Achtel-genauen Ausklopfen der verstaubten Perücken wird die unglaubliche Musikalität Kyliáns spürbar. Eine gelungene Herausforderung für die Kompanie.
So bleibt ein kontrastreicher Dreierballettabend im Gedächtnis, kaum magisch, in jedem Fall aber farbig und bruchstückhaft-wirklich wie der Blick in ein Kaleidoskop.