Foto: Szene aus "Dark Glow" von Katarzyna Kozielska © Stuttgarter Ballett
Text:Eckehard Uhlig, am 4. Februar 2017
Gute Mehrfachballett-Abende fesseln ihr Publikum mit kontrastreicher Vielfalt der Bewegungseinfälle und Stile. Beim Stuttgarter Ballett kommt geistiges und körperliches Vergnügen hinzu. Jedenfalls bestätigt der „Verführung!“ überschriebene Tanzabend, der im Stuttgarter Opernhaus Premiere hatte, diese goldene Regel.
Zu einer Auftragskomposition von Gabriel Prokofiev (dem Enkel des berühmten Sergej Prokofjew) präsentiert die Stuttgarter Nachwuchs-Choreographin Katarzyna Kozielska die Uraufführung ihres Tanzstücks „Dark Glow“. Gruppen, Paare, Solisten und ein Mädchen-Ensemble tanzen in Überblendungstechnik zu der rhythmisch punktierten irrlichternden Musik, zu schrillen Blechbläser-Einwürfen, Perkussions-Schlägen und Geräuschkulissen – entsprechend eckig gezackt in den Bewegungsabläufen. Man agiert auch im gemeinschaftlichen Trippeltrab auf der Spitze, mit solistisch wirbelnden Pirouetten und akrobatisch verqueren Hebefiguren, bei denen die von ihren Partnern gehaltenen Tänzerinnen mit den Köpfen nach unten hängen und oben ihre Beine horizontal spreizen: also ein je individuell ausgeprägtes Treiben von Verliebten und Enttäuschten, von verunsicherten Selbstfindungs-Grüppchen und ausgegrenzten Einzelgängern. Doch bald erhellt und verwandelt ein Lichtschein, der sich zu einer grünlich strahlenden, schräg am Bühnenhimmel hängenden Scheinwerfer-Batterie auswächst, die bislang eher dunkle Szenerie. Zu Sphären-Klängen wenden sich (fast) alle Akteure dem Licht-Wunder zu, ziehen aus den bauschigen Oberteilen ihrer bunt-pastellfarbenen Trikots schwarze Hemdchen als Einheits-Kleidung hervor und gruppieren sich zu einem streng ausgerichteten, uniformen Kollektiv, das anonyme Bewegungs-Befehle ausführt. Nur ein einzelnes Liebespaar entzieht sich, verspielt und verloren an der Bühnenrampe tanzend, dem Gruppenzwang. Bis auch der Mann dem Lemming-Trieb folgt und seine verzweifelte Partnerin verlässt.
Sidi Larbi Cherkaouis 2009 in London uraufgeführte Choreographie „Faun“ ist von anderem Kaliber, hält sich nur entfernt an das bekannte Vorbild, Nijinskys „L’après midi d’un faune“, verwendet allerdings wie dieser Claude Debussys gleichnamige Musik, ergänzt von lyrischen Vokalbeigaben, die Nitin Sawhney komponiert hat. Zu sehen ist ein unerhört erotisch aufgeladener, animalisch anmutender Pas de deux mit Pablo von Sternenfels als Faun und Hyo-Jung Kang als Nymphe. Urwüchsig raubtierhaft ist seine tänzerische Virtuosität, wild, gierig und sprungbereit. Sie agiert sinnlich weich und verführerisch. Ihre Gliedmaßen scheinen zuweilen kunstvoll verschlungen, bieg- und schmiegsam. Anfangs beäugen und umschleichen sich beide. Später drängen sie sich Rücken an Rücken oder schwingen sich lustvoll durch Beingrätschen des jeweils anderen hindurch. Nicht nur der feucht glänzende, von einem Blätterteppich bedeckte Herbstwald-Boden im Hintergrund wirkt triebhaft schwül.
Das als deutsche Erstaufführung gebotene Tanzstück „Le Spectre de la Rose“ von Marco Goecke (zu Carl Maria von Webers „Aufforderung zum Tanz“) huldigt als zeitgemäße Version ebenfalls einer Ballett-Legende, einer seinerzeit von Nijinsky getanzten Fokine-Choreographie. Goecke, der sich mit dem Tänzer Nijinsky in seinem gleichnamigen Ballett auseinandergesetzt hat, findet freilich einen völlig andersartigen Zugang zu dem poetischen Stoff. Er ordnet dem Hauptpaar, dem von Agnes Su verkörperten Mädchen, das vom Rosengeist (hier Adam Russell-Jones) „heimgesucht“ wird, sechs weitere in roten Samtanzügen auftretende Kavaliere zu, die wie bei einer Hochzeitsprozession Rosenblüten verstreuen. Sie sind Gespielen der traumverlorenen Tänzerin, die in langen schwarzen Hosen Zitter-Orgien vollführt. Russell-Jones verzichtet, rosengeschmückt und berauscht, auf hohe Flugbahnen und gewaltige Sprünge. Sein Rosengeist-Solo entfaltet in charakteristischer Goecke-Manier eine ganz eigenwillige Bewegungssprache. Er steht mit zuckelnd-ruckelndem Oberkörper angewurzelt im Spotlight – raumgreifend die Gesten der Arme und Hände, wunderlich verzückt die Haltungen des Kopfes.
„Die Melodie“ und damit der eigentliche Protagonist in Maurice Béjarts schon 1961 uraufgeführtem „Bolero“ ist der exzellente Stuttgarter Solotänzer Friedemann Vogel. Er markiert zu Ravels Musik in einem mitreißenden Crescendo den Höhepunkt des Vierteiler-Abends. Das kreisrunde, erhöhte Podest, auf dem er im zunehmend spannungsverdichtenden Wiegeschritt wie ein „auf der Stelle tretender“ Marathonläufer seinen Tanz zelebriert, ist milieugemäß in Rotlicht-Stimmung getaucht. Die ungewöhnliche Table-Dance-Szene kulminiert in geschmeidigen, trancehaften Körperfigurationen, von denen die um das Podest als Zuschauer sitzenden 36 männlichen Ensemble-Mitglieder überwältigt scheinen. Zu den erregenden Bolero-Schlussakkorden springen sie auf und umschließen den Tänzer-Tisch wie eine aufblühende Korallenrose. Allen vier Choreographien, vor allem aber dieser letzten, ist das von James Tuggle geleitete Staatsorchester Stuttgart ein motivierender musikalischer Begleiter.