Foto: Ensemble in „Tambora” von Guiseppe Spota © Andreas Etter
Text:Ulrike Kolter, am 9. Dezember 2019
Eigentlich sind sie richtig hässlich, diese dunkelgrauen, spröden und überdimensionalen Schaumstoffmatten, die das Arbeitsmaterial von „Tambora“ bilden: Puzzleteile des Bühnenbildes sind es, mal aufeinander gestapelt als Bergsilhouetten, mal flexibel bieg- und bespielbare Trampoline, auf denen die Tänzerinnen und Tänzer von tanzmainz diese Uraufführung des italienischen Choreographen Guiseppe Spota bestreiten. Man kann die kratzige, unangenehme Oberfläche förmlich spüren… Trotzdem, oder gerade deshalb, sind sie ein verstörendes Bild für die Unterwerfung der Natur durch den Menschen, für das vergebliche Bemühen, Ordnung und Form ins Chaos dieses Lebens zu bringen, das einem am Ende doch nur wieder aus den Händen flutscht wie jene grauen, biegsamen Matten.
„Tambora“ nennt Spota seine Choreographie, die er am Staatstheater Mainz und nicht an seiner neuen Wirkungsstätte Gelsenkirchen herausbringt, wo er seit dieser Spielzeit neuer Ballettdirektor der MiR Dance Company ist. Tambora wie jener Vulkan, der im April 1815 auf einer kleinen indonesischen Insel ausbrach und ein Naturspektakel mit globalen klimatischen Auswirkungen brachte. Mitteleuropa erlebte den „vulkanischen Winter“, Ernteausfälle und die schlimmste Hungersnot des 19. Jahrhunderts folgten. Ausgangspunkt ist für Spota also das Ausgeliefertsein des Menschen gegenüber den unbändigen Kräften der Natur – Klimakatastrophen gab es lange vor Greta. Nur, wie tritt ihnen der Mensch entgegen?
Man kann den gut 70-minütigen Abend – bei Bedarf und nach Programmheftlektüre – in drei Teile splitten, muss es aber nicht. Die drei Kompositionen von Anna Þorvaldsdóttir, Bruno Moretti und Michael Gordon sind ähnlich düster, vehement im Schlagwerk und flirrend in den Streicher-Motiven, kraftvoll und durchaus tanztheatergeeignet (einige wirbelnde Frauenmähnen und Menschenketten erinnern in der Tat an Pina Bausch). Zum Gesamtkunstwerk steuert Stefanie Krimmel die Kostüme bei, der Lichtdesigner Bambi ein cineastisches Beleuchtungskonzept mit filigranen Suchscheinwerfern oder überdimensionalen, grünen Lichtkegeln von oben.
Zunächst stecken alle Tänzerinnen und Tänzer in goldenen Ganzkörperanzügen mit hochgestellten, roten Kragen; artifizielle Schutzhüllen sind es, als dürfte beim Erklimmen jener (Schaumstoff-)Berge kein einziges Staubkorn an die Haut dringen; Naturverweigerung quasi. Lange sieht man nur die Rücken der Tänzer, in ewigem Stapfen und Schulterkreisen formiert sich das Ensemble und löst sich wieder auf, man reicht den Gestürzten helfend die Hände: Vorwärts wollen alle, vom Fleck kommt man kaum. Es folgt der große Jubel, gen Himmel gestreckte Hände und Partystimmung. Man trägt jetzt – im zweiten Teil – elegante Haute Couture und feiert sich selbst für den erreichten Aufstieg, während der Weltuntergang ringsum seinen Lauf nimmt. Da wirbelt der Goldtüll, ein Tänzer schnipst wahnhaft grinsend mit den Fingern, und alle haben mächtig Spaß an der inneren und äußeren Zerstörung.
Bald fällt dem Vergnügungsrausch auch die Natur zum Opfer, symbolhaft wird eine nackte Tänzerin in eine der überdimensionalen Schaumstoffmatten gewickelt, wird gerollt, besprungen und halb zu Tode gequält. All das ist ein skurriles Schauspiel aus Hüpfen, Saltos, hin- und hergeworfenen Leibern und Balancieren, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt.
Gelegentlich fährt die Bühne hoch, es zeigen sich darauf Videosequenzen von fallenden, nackten Tänzerinnen, auch die Matten dienen als Projektionsflächen für Liniennetze der Leuchtspots. Ein ausgeklügeltes Bühnensystem! Dass der Abend vom Philharmonischen Staatsorchester Mainz unter der Leitung seines Chefdirigenten Hermann Bäumer live musiziert wird, unterstreicht die authentische Bedrohlichkeit, von der viele Bilder im Gedächtnis haften bleiben.