Foto: David Müller in "Schuld und Sühne" am Schauspiel Stuttgart © Katrin Ribbe
Text:Manfred Jahnke, am 19. Juni 2022
Ein junger Mann hat einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er die Menschen in zwei Klassen einteilt: die gewöhnlichen und die außergewöhnlichen – wie Napoleon und viele andere. Denen, so argumentiert der Verfasser Raskolnikow, sei es auch erlaubt, für eine bessere Zukunft Verbrechen zu begehen und zu töten. Leitmotivisch setzt Oliver Frljić in seiner Fassung von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ am Schauspiel Stuttgart die Diskussion zwischen dem Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch und Raskolnikow, jeweils am Anfang des 1. und des 2. Teils. Am Ende repetieren alle Ensemblemitglieder einzelne Sätze. Frljić rückt die Frage von Gewalt und Macht sowie ihrer Legitimität als Theoriediskurs ins Zentrum. Daher hält sich der Regisseur nicht eng an die Abläufe und die Chronologie der Vorlage. Er springt vor und zurück, kürzt, strafft Handlungsstränge. David Müller als Raskolnikow zeigt kaum Züge eines Wahnsinns, sondern bleibt der Intellektuelle, der den „Gang in die Tiefen“ gesellschaftlicher Verelendung geht. Umso mehr körperlichen Einsatz mit grotesken Verrenkungen zeigt Felix Strobel als Petrowitsch.
Wenn sich Raskolnikow auch nicht in wahnvolle Vorstellungen steigert, so hat er doch ein Päckchen mit sich zu schleppen. Nicht zufällig zieht er zu Beginn vornübergebeugt das Ensemble auf einem kleinen rollenden Podest über die sonst leere Bühne, so wie später Sofja eine übergroße Figur eines gekreuzigten Christus hereinrollt. Oder noch später eine Kutsche, Betten, Schränke, Tische oder ein Pferd, wenn Mutter und Schwester in Sankt Petersburg ankommen, flüchtig einen Spielort markieren. Sobald eine Situation ausgespielt ist, verschwinden diese Teile wieder oder werden auf offener Bühne neu geordnet. So wie das Bühnenbild von Igor Pauška Szenen nur skizziert, sie nie in ein realistisches Ambiente stellt, sondern immer die Künstlichkeit des Bühnenraumes betont, so bleibt auch die Inszenierung von Frljić mehr andeutend-assoziativ als auserzählend. Seine Figuren agieren in einem Halbdunkel, was deren Plastizität betont. Manchmal überlappen sich Szenen auch: Da wartet Sofja im Hintergrund, während im Vordergrund noch eine andere Handlung läuft.
Der Mord an der Pfandverleiherin Aljona Iwanowna (Gabriele Hintermaier) wird erst kurz vor der Pause wirklich thematisch. Er wird nicht vorgeführt, stattdessen reicht sie Raskolnikow die Axt. Was bei Dostojewski zum Zusammenbruch der Figur führt, die von Skrupeln getrieben wird, eine „Laus“ getötet zu haben, wird nicht ausagiert. Auch wenn der ehemalige Student seine Seele herausschreit, sich die Schlinge immer enger um ihn zieht, bleibt es doch eher im Medium eines Diskurses: Da muss einer die Konsequenzen seines ideologischen Denkens schmerzhaft reflektieren, zumal die Armseligkeit eines hemdsärmeligen Materialismus, die diese Gesellschaft korrumpiert, mit der Hand zu greifen ist.
Faszinierender Sog
Obschon Maja Mirković Kostüme geschaffen hat, die sich historisch verorten lassen, auch die Kutsche und ähnliches auf das 19. Jahrhundert verweisen, entwickelt die Regie ein antinaturalistisches Konzept. Die Figuren führen mit wenigen Ausnahmen eine extreme Körpersprache vor. Aber auch sonst entwickelt Frljić starke Bilder: Er lässt im grellen Gegenlicht der Christusstatue den Kopf wegblasen, den Sofja zur Andeutung einer Schwangerschaft sich umbindet; oder da entwickelt sich im Büro von Petrowitsch mit einer Trittleiter eine Slapsticknummer, oder Müller und Strobel sitzen an einem Tisch, zu dem immer weitere Tische kommen, sodass eine große Distanz zwischen den Figuren entsteht (ein Schelm, der dabei an Putin denkt). Höhepunkt im zweiten Teil ist ein vom Schnürboden herabgelassenes Labyrinth mit Hunderten von Äxten, durch das sich am Schluss das Ensemble schlängelt.
Auf dieser Bühne ist immer Bewegung. Erzeugen schon die szenischen Arrangements einen starken emotionalen Sog, steigert sich dieser Eindruck noch mit den Atmosphären, die die Musik von Daniel Regenberg schafft, bei der mal unheimliche Stimmungen entstehen, dann wieder ganz zarte lyrische Töne klingen, mal die Musik auf sich aufmerksam macht, mal fast unhörbar eine Szene grundiert. Regenberg hat eine Musik komponiert, die die Inszenierung ständig begleitet und sie in ihrer Intensität steigert.
Grandiose Schauspiel-Leistung
In diesen Gesamteindruck fügt sich das Ensemble ein, allen voran Paula Skorupa als Sofja, die zur Prostitution gezwungen, sich dennoch eine Schüchternheit bewahrt hat. Scheu, oft mit niedergeschlagenen Augen bewegt sie sich durch die Handlungen dabei zupackend, wo ihre Hilfe gefordert ist, der Religion und dem Leben zugewandt. Ihr Vater, dem Reinhard Mahlberg freundlich-joviale Töne gibt, gerät unter die Kutsche und stirbt. Raskolnikow, der den Säufer kennt und beim Unglück dabei ist, versucht der Familie und der Witwe, die ihrer einstigen herrschaftlichen Herkunft nachtrauert, zu helfen. Therese Dörr gibt dieser Figur Würde, vom Leben zwar geschunden, aber doch auf Form achtend.
Für Raskolnikow ist es nicht einfach, dass Mutter und Schwester nach Sankt Petersburg gekommen sind. Gabriele Hintermaier spielt die Mutter mit würdevoller Zurückhaltung. Sie versteht ihren Sohn nicht und verschließt auch die Augen vor den Problemen ihrer Tochter. Diese wird von Celina Rongen als selbstbewusste junge Frau vorgeführt, die damit zu kämpfen hat, dass die Männer sie besitzen wollen – und darüber hinaus diese Männer mit unlauteren Mitteln kämpfen.
Da ist zum einen Luschin, der Bräutigam, der bewusst eine Frau aus ärmeren Verhältnissen wählt, weil Dankbarkeit sie fügsamer machen sollte. Als er spürt, dass sie sich nicht einfach fügt, schwärzt er mit bösen Intrigen Sofja an. Peer Oscar Musinowski gibt dieser Figur etwas Aasiges, Geiergleiches. Und dann wäre noch Swidrigajlow, bei dem Awdotja als Gouvernante gearbeitet hat, der ihr nachstellte. Nun, nach dem Tod seiner Gattin, möchte er, dass sie zu ihm kommt und da er das Gespräch zwischen Sofja und Raskolnikow belauscht hat, in dem er ihr den Mord gestanden hat, versucht er nun, die Schwester zu erpressen. Sven Prietz gibt dieser Figur etwas leicht Zynisches, zugleich aber spielt er auch das Kind, das unbedingt besitzen möchte.
Im Zentrum aber steht das Duell zwischen dem Untersuchungsrichter und dem Täter. Das machen David Müller und Felix Strobel lustvoll. Und so ganz nebenbei entwickelt sich der Diskurs über gewöhnliche und außergewöhnliche Menschen zu einem sehr aktuellen – ohne es einmal direkt auszusprechen oder anzuspielen: Was da auf der Bühne verhandelt wird, ist von bedrängender Aktualität.