Foto: Marcus Michalski (Hölderlin) Lily Josephin Frank (Fritz von Kalb) und Kirstin Göpfert (Charlotte von Kalb, v.l.) © Patrick Pfeiffer/Württembergische Landesbühne
Text:Manfred Jahnke, am 17. Januar 2020
Vor 250 Jahren wurde Friedrich Hölderlin geboren. Das könnte ein Anlass sein, sein Werk neu zu überprüfen, dessen Lyrik von den Nazis missbraucht wurde. Auch sein Leben bietet reichlich dramatischen Stoff: Politisierung im Tübinger Stift zusammen mit seinen Kameraden Hegel, Schelling oder Sinclair angesichts der Pariser Ereignisse 1789, Liebesaffären als Hofmeister mit anschließenden Rauswürfen, die Verfolgung als letzter Jakobiner, die ihn über eine gewalttätige Psychiatrie in Tübingen für fast 40 Jahre – von 1807-1843 – im berühmten Turm in Tübingen bei der Familie Zimmer verschwinden lässt. Peter Weiss hat, uraufgeführt 1970/1971 von Peter Palitzsch in einer dichten Inszenierung am Staattheater Stuttgart – diesen ungeheuren Stoff zu der Geschichte eines politischen Visionärs geformt, der an der Realität scheitert. Sein Hölderlin kann sich seine Visionen nur bewahren, in dem er alle Beziehungen zur Wirklichkeit abbricht und sich isoliert.
Was Peter Weiss ins Zentrum seiner Handlung setzt, ist die diskursive Analyse dessen, was aus einer Begeisterung für die Revolution wird. Hölderlin bleibt seinen Visionen treu, die Studienkollegen Hegel und Schelling verabschieden sich als Professoren von ihrer revolutionären Begeisterung. Für jemanden, der, wie der Rezensent, den Beginn der 70er Jahre bewusst miterlebt hat, weiß, dass Weiss hier nicht nur eine genau recherchierte Biografie einer historischen Persönlichkeit vorlegt, sondern zugleich eine Analyse der Ereignisse zu Beginn der 70er: Im Historischen spiegeln sich die unterschiedlichen Positionen der Studentenbewegungen, von der revolutionären Vision über den Gang durch die Institutionen, bis hin zur intellektuellen bürgerlichen Anpassung, wie sie z.B. Volker Ludwig in seinem Stück „Eine linke Geschichte“ in der Schaubühnenszene drastisch vorführt.
Wie auch im „Marat/de Sade“ arbeitet Weiss in „Hölderlin“ mit komplexen Zeitebenen. Aber wie funktioniert das, wenn diese Zeitschiene 1789 über 1970 auf 2020 überspringt? Gibt es 2020 überhaupt ein revolutionäres Potential? Sind Klimakatastrophe oder #MeToo wirkliche revolutionäre Strömungen, die von klaren Visionen getragen werden? Keine einfachen Fragen, die sich eine Dramaturgie stellen müsste. In einer Zeit allerdings, in der politische Visionen aus der Wirklichkeit entschwunden sind, konzentriert man sich gezwungenermaßen auf die Biografie des Dichters, der nun endlich auch seine populärwissenschaftliche Weihe durch Rüdiger Safranski bekommen hat. Insofern ist die Entscheidung der Regie von Klaus Hemmerle an der Württembergischen Landesbühne nachvollziehbar, „Hölderlin“ als Moritat zu inszenieren. Er baut mit dem starken Martin Theuer, der auch die musikalische Leitung hat, die Rolle des Sängers bei Weiss musikalisch aus. Er begleitet sich selbst mit der Gitarre, macht nicht nur die szenischen Ansagen wie in der Vorlage, sondern rafft singend Handlungen. Er beobachtet von der ersten bis zur letzten Minute seine Mitspieler und schafft so einen Konzentrationsraum.
In mehreren seiner Stücke setzt Weiss die Form des Bänkelsangs ein, der distanzierend von merkwürdigen oder makabren Ereignissen krude berichtet. In Esslingen sind die Arbeiterszenen gestrichen. So fehlt der Moritat der politische Bezug, sonst eine wesentliche Funktion der Bänkelsängerrolle. Zwar lässt sich aus der Handlung der Grundkonflikt von Hölderlin rekonstruieren, aber er erscheint nun als bloß historischer der „teutschen“ Misere. Besonders deutlich wird das in den Hofmeister-Szenen. Sowohl bei den von Kalbs weicht der Protagonist Wihelmine Kirms, von Lara Haucke überlegen angelegt, aus, als auch mit dem Sehnen der Susette Gontard, der Kristin Göpfert verzweifelte Züge gibt, kann er nicht umgehen. Marcus Michalski als Hölderlin krümmt sich in Gegenwart der Damen. Fast könnte man meinen, dass Hölderlin sich aus sexuellen Schwierigkeiten heraus in die Isolation begibt…
Die Szenerie von Frank Chamier wird von hohen Bücherregalwänden rechts und links mit Durchgängen bestimmt, nach hinten begrenzt von einer weißen Wand, die verschiedenfarbig ausgeleuchtet wird. Neben einen Hocker für den Sänger (und dessen Verstärker), einem Stuhl und einem Diwan gibt es nur noch eine vierteilige durchsichtige Wand. Die wird im Spiel multifunktional benutzt, in unterschiedlichen Formen, zum Schluss als turmartiges Gebilde, in dem Hölderlin agiert. Dieser Raum ermöglicht schnelle Wechsel und erlaubt es Hemmerle seine Stärken als Regisseur auszuspielen, sein Gespür für genaues Timing und Ensemblespiel, mit dem er mühelos vier Schauspielstudenten integriert, aus Stuttgart Claus Becker u.a. als Schelling, aus Ludwigsburg Kim Patrick Biele u.a. als Schiller, Lily Josephin Frank als Christiane Zimmer und Maria Joao Kreth D’Orey als Sinclair und Marx. Alle Schauspieler bis auf Theuer haben mehrere Rollen zu spielen. Karlheinz Schmitt, Oliver Moumouris, Florian Stamm und Lucijan Gudelj machen das neben den schon Genannten auf einem hohen energetischen Niveau. Jede einzelne Figur ist zudem genau gesetzt. Es wäre leicht Goethe und Schiller, Hegel und Schelling nur zu karikieren. Dem widersteht Hemmerle, trotz der komischen Züge, die diese Figuren haben. Er nimmt sie vielmehr selbst dort ernst, wo er sie in die Hysterie treibt. Die schnellen Rollenwechsel werden von den historisierenden Kostümen von Frank Chamier unterstützt.
So ist ein bunter Bilderbogen entstanden, der seinem schwäbischen Publikum einen schwäbischen Dichter zu seinem 250. Geburtstag vorstellt. Unmerklich hat Hemmerle dabei Originalzitate in die „altdeutsche“ Sprache, die Weiss als Stilmittel einsetzt, einmontiert. Dafür zieht er vor allem das Fragment gebliebene Drama „Der Tod des Empedokles“ heran, von einer Art Arbeiterchor vorgetragen, aber so bewusst laienhaft, dass der Sinnzusammenhang des Textes sich nur schwer erschließt. „Zwei Wege sind gangbar zur Vorbereitung grundlegender Veränderungen: Der eine Weg ist die Analyse der konkreten historischen Situation, der andere Weg ist die visionäre Formung tiefster persönlicher Erfahrung.“ Das sagt Marx bei seinem Besuch im Turm zu Hölderlin. Wo sind sind sie heute, die Visionen?