Foto: "Memento mori" am Gärtnerplatztheater München © Lioba Schöneck
Text:Vesna Mlakar, am 8. Juli 2013
Intimität? Fehlanzeige! Die Auseinandersetzung mit dem Thema Vergänglichkeit hat schon den Komponisten Luigi Cherubini zu einem musikgewaltigen Chorwerk inspiriert, einer monumental-dramatischen Totenmesse, dessen brachiale Klangentladung (v.a. im Dies Irae des „Requiems c-Moll für gemischten Chor und Orchester“) Karl Alfred Schreiner in seiner Choreographie zu einer (Über)Fülle an aktionistischem Körpertheater hinriss. Das Herausarbeiten nuancierter Empfindungszustände war seine Sache diesmal nicht. Sein „Requiem“ visualisiert, woran der Mensch nur ungern denkt: die Allgegenwart des Todes – in starken, jedoch immer sehr konkreten Bildern (drastisch: die zunehmende Insektenfraßprojektion auf einen Leichnam, bis hin zur Skelettierung). Unter seinen 20 Tänzerinterpreten – ihre Rollen gehen mehr in der kollektiven Masse auf, als dass sie individuelle Gestaltung zulassen – geht es dabei in vielen Passagen nahezu martialisch zu. Verzweiflung und Angst durchzuckt die Glieder. Nur unter der Erde, einem nebligen, schummrig-blau ausgeleuchteten Zwischenreich voller Stützsäulen verlieren die Bewegungen an Rastlosigkeit, werden suchender und ruhiger.
Noch bevor die ersten Sängerstimmen anheben, schreiten kapuzenvermummte Choristen an die Rampe und werfen (wie später die Leiber quasi entseelter Tänzer) weiße Nelken in ein überdimensionales Grab. Diese Vertiefung, die das gesamte im hinteren Teil der Reithalle platzierte Orchester hätte fassen können, trennt das Publikum vom Bühnengeschehen ab. Das schafft Distanz – und emotionalen Abstand zu den (gerade für eine Sommerpremiere) düsteren Inhalten des neuen Ballettabends „Memento mori“. Zur Premiere im Ausweichquartier des Staatstheaters am Gärtnerplatz strahlte die dieses Jahr häufig vermisste Abendsonne am 6. Juli auf die erwartungsvolle Zuschauermenge. Deren leichte, fröhlich-bunte Outfits kontrastierten das von Jordi Roig auf die puren Hallenwände reduzierte Ausstattungskonzept mit seinen Kostümfarbdominanten Schwarz und Beige. Gelungen: der finale Ausbruch eines Tänzers nach dem Tod seiner Partnerin zur Hintertür hinaus ins Freie.
Hatte Schreiner, musikalisch souverän von Chor und Orchester getragen, das Unfassbare im geschlossenen Raum allzu ernsthaft-plakativ zelebriert, versöhnte der rumänische Gastchoreograph Edward Clug in seiner Auslegung des solostimmengeführten „Stabat Mater“ von Giovanni Battista Pergolesi (eindrücklich: Elaine Ortiz Arandes, Sopran und Ann-Katrin Naidu, Alt) mit suggestiven Einfällen. Sein Münchner Debütstück knüpft (nicht nur durch ästhetische Ähnlichkeit) frappierend stringent an das seines Gastgebers an. Vor allem zu Beginn scheint auch hier der Impuls der Musik dieselben 20 Tänzer rücklings fortzureißen. Dieser Kraft will keiner der beiden Choreographen mit besinnlicher Leere oder nach innen gerichteten Soli begegnen. Man rennt viel, Clugs Frauen sogar in hochhakigen Schuhen, fällt nun aber weniger zu Boden. Clug, mehrfach ausgezeichneter Ballettchef des slowenischen Nationaltheaters in Maribor und gefragter Shootingstar, scheut weder die Vermischung von Zeitgeistigkeit und Textreue noch Verfremdung. Lange schlichte Bänke verwandeln sich in Laufstege bzw. Orte, wo Frauen und Männer sich dynamisch gegenübertreten, oder Christus-Kreuz und (Auferstehungs-)Grab: biblisches Wiedererkennen – allerdings nicht 1:1! Der Männerkopf unter dem Frauenrock assoziiert Schwangerschaft, das gemeinsam in die Ärmel eines Jacketts geschlüpfte Paar liebevolle Nähe. Mit diesen Tableaus lässt sich gut leben. Verdienter Applaus für den gewagten Zusammenschluss der Sparten Orchester, Chor und Ballett.