Foto: Conny Grotsch und Alexander Donsch in "Der Talisman" am Mittelsächsischen Theater Freiberg-Döbeln © Janine Haupt
Text:Tobias Prüwer, am 3. Oktober 2022
„Das Vorurteil ist eine Mauer.“
„So kopflos urteilt die Welt über die Köpfe.“
Im Schlussbild findet der Abend am Freiberger Theater zur Ruhe und versöhnt. Die Darstellenden legen Teile ihrer Kostüme ab, schlüpfen aus ihren Rollen und stimmen einen Chor der Toleranz an. Das Licht verlischt und beendet eine Tour de Force durch Johann Nestroys „Der Talisman“.
Gestrafft wird die Geschichte vom grassierenden Rot-Haar-Hass auf dem Gut der Frau von Cypressenburg erzählt. Dort lebt die rothaarige Gänsehirtin Salome quasi als Ausgestoßene. Auf dem Landsitz wird diese Haarfarbe nämlich nicht toleriert. Das muss auch der Landstreicher Titus, ebenfalls ein Rotschopf, erfahren. Durch glücklichen Zufall gelangt er an eine Perücke. Dank dieses Talismans gelingt ihm der gesellschaftliche Aufstieg bis hin zum Sekretär der Herrin, bis der Schwindel auffliegt. Eine Wendung später wird er zum reichen Erben und verpaart sich mit der glücklichen Salome.
Possenreicher werden Menschen
Was wie eine Parabel vom Sieg des Guten und der Toleranz klingt, hat schon Nestroy als derbe „Posse mit Musik“ angelegt. Das wird im erzgebirgischen Freiberg zum Programm. „Die Kunst gehört dem Volke“, steht am Giebel des Theaterhauses und auch das nimmt Regisseurin Silke Fischer Ernst, wenn sie das Stück als Volle-Pulle-Volkstheater inszeniert. Opulent sind die Kostüme, ebenso die Art zu spielen. Jede Bewegung ist exaltiert, die Mimik stets überbetont. Die acht Darstellenden kokettieren, schreien, gehen zu Boden, verrenken sich und schmettern Schnulzen, was das Zeug hält. Alles, was man vom Boulevardtheater kennt, fließt ein. Von Sekunde null geben sie Tempo und halten es. Einzig Natalie Heiß gelingen dabei Zwischentöne, weil sie durch Überakzentuierung in Sprache und Spiel ihre Figur zu einer hübschen Karikatur ihrer selbst gestaltet. Aber auf Nuancen zielt die Inszenierung gar nicht ab. Da geht die Kammerfrau optisch schon mal als Sado-Maso-Sekretärin durch. Der Friseur ist eine Art Grufti-Vampir und die Hausherrin trägt eine halbmeterhohe Steckfrisur in Schwarz und Weiß.
Solchen Gewaltakt von Schenkelklopfer und pausbäckigem Slapstick muss man mögen. Als ein buntes Stück Revuetheater funktioniert er, auch wenn die Lieder übers Mikro gesungen werden, was die gute Raumakustik eigentlich nicht verdient hat. Zum Gesang wird getanzt, treten mal Hintergrundtänzer auf, die etwa beim Lied über die glücklose Liebe vom Apfel zur Butterbirne Messer und Gabel wetzen. Der Kern des rasanten Treibens und eigentlicher Clou ist das Bühnenbild: Einzig eine riesige dunkelblaue Torte steht in der Mitte. Der treppenartige Aufbau wird auf allen vier Ebenen bespielt. Er ist zugleich Sinnbild für den sozialen Aufstieg und die Karriereleiter. Das oberste Segment lässt sich drehen und wird so zum Thron der Gutsherrin. Immer wieder lassen sich Klappen an den Podesten öffnen, sodass die Spielenden auch aus dem Aufbau heraus und in ihn hinein klettern können. Das eröffnet eine Vielfalt an Spielmöglichkeiten und macht den Bühnenumbau unnötig. Daher rauscht die Inszenierung unterbrechungslos durch die drei Akte. Nur aufgrund des obligatorischen Pausenweins schließt sich einmal der Vorhang.
So überrascht der Schluss in seiner Ruhe, weil plötzlich alle Darstellenden auch mal leise können. Aber die Botschaft der Toleranz kann eben nicht gebrüllt werden. Soll sie vernommen werden, muss sie überzeugen, nicht überfordern. Und dafür verwandeln sich die ulkigen Possenreißer schlussendlich in Menschen.