Foto: Aus dem Opernmovie "Chaosmos" © Konrad Kästner
Text:Roland H. Dippel, am 6. Dezember 2020
Die Oper Halle war gebeutelt. Anstelle von gleich zwei geplanten Opern-Uraufführungen in der Spielzeit 2019/20 gab es wegen Corona keine. Mit um ein halbes bzw. Dreivierteljahr zeitversetztem Erfolg: Man schaffte das, weil die für drei Spielzeiten zum Produktionskombinat zusammengeschlossenen Opernhäuser von Bremen, Halle und Wuppertal sowie die Münchener Biennale auf ihre Art andere Digitalpioniere sind als das Staatstheater Augsburg. Wenn es der abklingende Pandemie-Verlauf zulässt, gibt es „Opera Opera Opera! Revenants and Revolutions“, den vierten (Opern-)Teil der Klima-Trilogie von Ole Hübner und Thomas Köck, in den Münchner Kammerspielen als Digital-Performance. Die andere visuelle Totaloperation und damit Emanzipation aus den Produktions- und Rezeptionszwängen analoger Opernhäuser erfolgte gestern mit „Chaosmos“. In Wuppertal gab es im Januar noch vor echtem Publikum eine haptische Uraufführung des Opus für vier Solisten, Orchester und Gabelstapler.
„Chaosmos“ ist temporeich, zackig, böse und von einer sympathischen Unkorrektheit, die erleichtert und befreit.
Man kann die 24 Clips willkürlich anzappen, aber mehr hat man vom Film im Ganzen von Anfang bis Ende. Denn deutlicher werden so auch die darin enthaltenen bitteren Wahrheiten und Bosheiten, welche mit Affenzahn über das digitale Publikum hereinbrechen.
Hier geht es um nicht weniger als eine Genesis der Logistik im terrestrischen und später virtuellen Raum von Amazonien bis Amazon. Diese Zivilisationsordnung verhält sich zur Etikette korrekter Betriebsabläufe wie Marquis de Sades Zivilisationskritik „Philosophie im Boudoir“ zu Mozarts Schäferspielchen „Bastien und Bastienne“. Die Schimpfwort-Kanonade von Tobias Rausch ist effizient und kreativ – da kann man noch viel und gut lernen dabei.
Tobias Rausch, Konrad Kästner und auch der sich mit Bruitismen gefallende Marc Sinan sind gebildete Humanisten. Sie wissen, wie die bedeutenden Utopien, Apokalypsen, philosophischen Dialoge gebaut sind. Diese übernehmen sie aus den verteufelt humanen Dramen der Vergangenheit für die besten und trefflichsten Konstruktionsmittel. Im schönen neuen „Chaosmos“ hängt alles mit allem zusammen, wenn eine in ihrer Heimat ermordete Vietnamesin posthum für 15 Minuten zum Star wird. Mikro- und Makrokosmos durchdringen sich: Die zwei kleinen Pickerlein Jay (Ulrike Langenbein) und Joe (Rike Schuberty) grübeln und scharren im Lager eines Online-Kaufhauses nach dem Sinn des Lebens. Schwestern sind sie, weshalb sie sich küssen und schlagen. Aber vor allem wollen sie wissen, was sich hinter Andeutungen exotischer Duftnoten verbirgt in jenen Paketen, die sie nicht öffnen dürfen. Für welche Kunden, für welche Menschen?
George Orwells großer Bruder war gestern: Die „Chaosmos“-Chefs vom ganz nahen Morgen sind Gesichter auf Screens, die auf Rumpf-Anatomien von Robotern geplugged wurden. Die Stimmen von Anke Berndt, Yulia Sokolik, Robert Sellier und Andreas Fischer sind elektronisches Rülpsen und Gurgeln, mit dem sie ihre Ordnungsparolen herauskrächzen. Es ist folgerichtig, dass die Macher zur Darstellung der von Logistik regulierten Welt Analogien zu Koyaanisqatsi und Katastrophen-Thrillers einsetzen. Wenn die Musik von Marc Sinan tröstlich wird, klingt sie wie zweitklassiger Phil Glass. Nicht aus kreativer Impotenz, sondern weil artistisches Recycling die logische Konsequenz aus einem schonenden Wertschöpfungsprozess ist.
Die Ausflüge in die vor-logistischen Zeiten unserer Zivilisation sind aus der Perspektive der keimfrei-perfekten Superordnung logischerweise in Schwarzweiß und obszön. Dem Naturforscher Carl von Linné, Bestimmer der organischen Weltordnung in Flora, Fauna und Mineralien, geht es mit schmutzigen Worten an Kopf und Kragen. Zum Referat über die Frustrationen von Linnés Ehefrau sieht man Skizzen, bei denen die Unterscheidung von Körperöffnungen und labernden Mundwerkzeuge sogar Sendeteilnehmern, die mehr Zeit mit Onlineseminaren als mit Onlineshoppen verbringen, äußerst schwerfällt.
Die Autoren des aleatorischen Opernmovies „Chaosmos“ sind demzufolge fair und objektiv. So vermeiden sie den Eindruck, als sei in den Jahren vor der totalen Logistik, dem regulierten Konsumrausch und dem digitalen Überangebot alles besser gewesen. Niemand möchte mehr in Systemen leben, wo akademische Dödel sich ungefragt in Hinterteile bohren oder Ehekrisen sich wie Steine im Bauch anfühlen.
Ganz nebenbei sei erwähnt, dass die technische, dramaturgische und ästhetische Mache des Films „Chaosmos“ vom allerfeinsten ist. Also keine bemühte Pirsch nach Trendästhetik, bei der die mangelnde Selbstüberzeugung traditioneller Musiktheater ein flaues Gefühl auslöst und man am liebsten weiterschalten würde. Die Spannung trägt und alle, die Albees Schimpfwort-Kanonade in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ mit etwas Genussfähigkeit rezipieren, kommen auch hier voll auf ihre Kosten. Genauso die Zitat-Stöberer, Cinéasten und Anhänger der schwarzen Romantik, des schwarzen Humors und tiefschwarzer Zukunftsvisionen. Nur eines sollte Sinan bedenken, falls er das zu seinem Erfolgsrezept ausbauen will: In den Gremien und Nischen der akademischen Neuen Musik macht man sich mit so etwas keine Freunde. Gutes Heiligabend-Programm für Weihnachtsmuffel und alle, die wissen wollen, was für unser Wohlbefinden wirklich wichtig ist. Chaosmos first!
Der ganze „Chaosmos“-Film ist hier abrufbar.