Foto: „Life Letters 2“ am Volkstheater Rostock © Dorit Gätjen
Text:Michael Laages, am 28. März 2021
Auch Herr Schwarz war dabei. Den Leiter des Rostockers Gesundheitsamtes sieht Ralph Reichel, Intendant vom örtlichen Volkstheater, als wohlgesonnenen Partner der Bühne; vor Jahresfrist plus zwei Wochen hatte der Behördenchef demonstrativ die letzte Vorstellung vor der Schließung damals besucht, und jetzt wollte er unbedingt dabei sein, wenn erstmals wieder 100 Zuschauerinnen und Zuschauer eine Premiere auf der großen Bühne des Hauses miterleben durften.
Das bundesweit intensiv beachtete (und vom Rostocker Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen energisch und medienwirksam vorangetriebene) Testprojekt der Wiederöffnung kultureller Räume war offenkundig schwer erkämpft – erst Donnerstagnachmittag wurden die Premierentermine für Freitag und Samstag genehmigt; deutlich wurde, dass die Stadt die Vorgänge beschleunigen wollte und das Land bremste. Wer jetzt sieht, wie in Berlin die (wahrscheinlich ja sehr erfolgreichen, also infektionsfreien!) Experimente mit einzelnen Öffnungen etwa am „Berliner Ensemble“ sofort wieder einkassiert werden mit Blick auf die Infektionszahlen, ohne auch nur die realen Ergebnisse der Testungen in Theater und Konzertsaal abzuwarten, der ahnt, dass Politik und Behörden das reale Geschehen in Theater und Musikhäusern weiterhin vollkommen egal ist. „Hauptsache geschlossen!“ wird wohl weiter als Parole ausgegeben – auch wenn dadurch womöglich nicht eine Infektion verhindert wird.
Gerade um das zu beweisen, wurden die Gäste im Rostocker Theater ja jetzt aktuell getestet (falls sie nicht selbst einen gültigen Test bei sich trugen), und auch die neue Luca-App kam zum Einsatz, um die Nachverfolgung (sehr unwahrscheinlicher) Infektionen so schnell und konkret wie möglich zu gewährleisten. Theater- und Konzertpublikum ist ja das allerbravste überhaupt im Lande, jeder und jede trägt Maske auch im Theaterraum, genau wie davor und danach; und überzeugende lokale Recherchen wie etwa am Wolfgang-Borchert-Theater in Münster weisen ja auch die gängige Warnung vor Anfahrt zum und Rückkehr nach dem Theater als „Ammenmärchen“ aus, wie Theaterchef Meinhard Zanger das nennt – ins Theater gehen und im Theater sein ist sicher wie kaum etwas sonst; bis zum Beweis des Gegenteils. (Aber den will offenbar gerade niemand führen – „Hauptsache geschlossen!“ reicht.)
In Rostock hat nun Daniel Pfluger, das prägende junge Talent im Regieteam des Hauses, „Jugend ohne Gott“ inszeniert, als Bühnenfassung nach dem Roman, den Ödön von Horváth 1937 fertiggestellte, im Jahr bevor der Autor starb. Visionär analysiert Horváth den Zerfall des zivilisatorischen Zusammenhalts in einem Volk; und die Zerstörung des Kerns der Gemeinschaft analysiert er am Beispiel von Schule, Lernen und Jugend generell. Natürlich hatte Horváth den Nationalsozialismus seiner Zeit im Visier, noch vor Pogromen und Krieg – die Übertragung auf unser aller Weltgegenwart, auch in der Pandemie, nimmt jeder und jede selber vor.
Am „Welttag des Theaters“ (27. März) folgte dann auf der Studiobühne „Life Letters“, der zweite Teil eines Langzeitprojektes der von Katja Taranu geleiteten Tanztheater-Compagnie des Volkstheaters. Wie praktisch überall ist das kleine Ensemble international wie keine andere Abteilung des Hauses – darum liegt es sehr nahe, dass sich die Tänzerinnen und Tänzer mit Geschichten von Flucht und Migration beschäftigen. Der von der Gruppe selbst choreographierte Abend vermischt nun ganz konkrete Erzählungen vom Wechsel der Welten (von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak, von Migrantinnen und Migranten etwa aus Spanien, aber auch aus vielen Staaten Osteuropas) mit den gesammelten Biographien im Ensemble – und in Videos wandern Zuwanderinnen und Zuwanderer zum Beispiel am „Teepott“-Restaurant in Warnemünde vorbei oder Sandstrand und Küste entlang; und das Ensemble zeigt kleine choreographische Rituale mitten im Wald. Hinter Bäumen verschwinden sie zuweilen komplett, wenn eine Hand, ein Arm sie dorthin lockt… Natalie Shults und Daniele Varallo arbeiten mit pfiffigen Tricks in Aufnahme und Schnitt der Videos.
Davor wird getanzt; natürlich sorgsam und regelmäßig getestet und darum eng wie gewohnt. Körper folgen anderen Körpern in feiner Linienführung, zu zweit, zu dritt und mit allen; die kleine Shownummer zu Roy Orbisons altem „Pretty Woman“-Hit wird zum etwas populistischen Finale. Aber das Plädoyer für die offene, vorurteilsfreie Gesellschaft hat immens viel Kraft. Viel Beifall von weniger als 20 Zuschauerinnen und Zuschauern (mehr dürfen nicht rein ins Studio); aber aus der letzten Reihe tönt’s: „Ach, war das schön…“
Das Rostocker Theater hat getan, was es konnte; die Vorleistungen der Bühnen waren ja auch schon in der kurzen „offenen“ Phase im September und Oktober vorigen Jahres enorm und in jeder Hinsicht beispielhaft. Nirgends sonst wird so viel Sicherheit garantiert, Beweise werden erbracht, wann und wie und wo immer es geht.
Menschen allerdings, die nicht wissen (und wohl auch nicht wissen wollen), was für andere Menschen Kultur bedeutet, interessiert das weiterhin nicht. Auch das ist Teil jenes Mangels an Zivilisiertheit, von dem zum Beispiel Horváth schrieb…