Text:Bettina Weber, am 4. März 2013
Die Vielzahl der Möglichkeiten wächst heute beständig: Ob beruflich oder privat, die unzähligen Wege und Lebensentwürfe sind in den Industrieländern so unübersichtlich geworden, dass die Wahl oft zur Qual wird und die Identitätssuche zunehmend schwieriger. Dieser oft besungene Gegenstand, die Suche nach dem eigenen „Ich“, ist auch Thema der ersten Inszenierung Staffan Valdemar Holms nach seinem Rücktritt als Intendant am Düsseldorfer Schauspielhaus: Peer Gynt, beständig suchend, getrieben von einer unstillbaren Sucht nach Erfolg, Macht und sexueller Befriedigung.
Er besteht aus lauter Bildern, dieser Peer Gynt. Er ist Kind und Erwachsener, amouröser und dramatischer Abenteurer, will Kaiser werden, erlebt Geschichten im norwegischen Wald, auf dem Schiff und in der Sahara. Seine Mutter enttarnt ihn jedoch zu Beginn als Lügner und so weiß man kaum, welche der Geschichten, die sein Leben schreibt, nun echt sind, und welche nicht. Die Grenze zwischen dem „Foto-Positiv“ und dem „Foto-Negativ“, so heißt es am Ende trefflich, sind in seinem Fall so verschwommen, dass das „Gynt’sche Ich“ ebenfalls verschwimmt. Und so ist das Bühnenbild (Bente Lykke Møller) auch ein Museum (dessen Wände das Museumspersonal/die Bühnentechnik von Szene zu Szene verschiebt) voller großformatiger Fotos mit Motiven aus dem Stück. Peer Gynts zerrissenes Leben hängt verhackstückt an der Wand.
Die Rastlosigkeit und Gier des Protagonisten hat Holm mit all seinen Facetten sehr detailliert in Form gegossen: Dieser Peer Gynt scheint permanent zu rennen, ohne dass er läuft, er wirkt mal faserig und abwesend, ist dann wieder leidenschaftlich konzentriert und präsent. Der offensichtlich wieder genesene Olaf Johannessen, der wegen einer Verletzung zuletzt noch mit Krücken geprobt hatte, setzt diesen stringent inszenierten Charakter über gute dreieinhalb Stunden hinweg sehr sensibel und kraftvoll um.
Die norwegische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, zweiter inhaltlicher Schwerpunkt in Henrik Ibsens Dramatischem Gedicht, wird vor allem auf ihre Rückständigkeit und ihr Verhaftetsein in alten Traditionen und Brauchtümern reduziert: Die Verdrehung in die lächerliche Trollgesellschaft nimmt großen Raum ein und wird zumal durch Choreographie (Jeanette Langert) und Kostümbild (Bente Lykke Møller) so wunderbar skurril, dass man hier über die extreme Ausführlichkeit der Darstellung gern hinwegsieht. All die anderen historischen und gesellschaftlichen Hintergründe, auf die das Programmheft auch noch einmal hinweist, wie die Besetzung Norwegens durch Schweden kurz nach der Unabhängigkeit von Dänemark, werden jedoch eher marginal gestreift. Dafür werden sie dann aber teilweise etwas kaugummiartig verarbeitet: Szenen wie die Beerdigung des Mannes, der sich aus Angst, in den Krieg gegen die Schweden zu ziehen, einst einen Finger abhackte, hätten durchaus Raum für Kürzungen geboten. Auch wenn die schauspielerische Leistung des personalstarken Ensembles insgesamt sehr zu loben ist.
Die Inszenierung mag zwischenzeitlich ein wenig viel wollen und damit etwas zur überfrachteten, bunten Bonbon-Tüte geraten, aber sie lebt von einer großartigen Interpretation des Menschen Peer Gynt. Gen Ende findet er auf dem Boden eine Zwiebel, die wie er aus unzähligen Schichten besteht und doch keinen Kern hat. Er zerteilt sie mit herzhaften Tritten. Im Stück wie auch in einer heutigen Gesellschaft ist es ein trauriges Dasein, in dem man nur sucht und nie findet und sterben muss, ohne zu wissen, wer man war.