Foto: "Kitesh" beginnt im Freien - bei jedem Wetter, auf dem Bild: Statisterie, "Chorespondenten" und Maria Buzhor. © Theater, Oper und Orchester Halle GmbH, Falk Wenzel
Text:Roberto Becker, am 19. Oktober 2020
Dmitri Tschernjakow hat Nikolai Rimski-Korsakows „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh und der Jungfrau Fewronija“ vor acht Jahren in Amsterdam so auf die Bühne gebracht, dass hinter dem mythisch umflorten Märchenzauber jede Menge Relevanz aufschien. Bei ihm war das Opernmonstrum aus dem Jahre 1906 ein bilderstarker Blockbuster über die russische Seele. Mit starken Bildern, in denen nicht nur der russische Wald samt Holzhütte, sondern auch die Tiere, mit denen die schöne Jungfrau Fewronija plaudert, und ihr Traumprinz vorkamen. Dennoch weitete Tschernjakow alles zu einem hellsichtigen Porträt einer postsowjetischen Gesellschaft aus, deren Bedrohung heute nicht die Heere der Tataren sind, sondern die des Irrationalen.
Natürlich ist es legitim, jedes überkommene Werk radikal zu hinterfragen, das heißt, in Frage und zur Disposition zu stellen. Also es zu dekonstruieren, um aus den Bruchstücken etwas Neues zu machen. Das gilt nicht nur für bekannte Werke, sondern auch für weniger bekannte. Was für Theaterkollektive wie „Hauen und Stechen“, dem die Regisseurin des Abends, Franziska Kronfoth, angehört, künstlerisches Selbstverständnis ist, mag für die Ensembles vieler Stadttheater im Lande eine Horizonterweiterung sein. Im Idealfall ist es das auch fürs Publikum.
In der Oper Halle gab es in den vergangenen Spielzeiten unter dem regieführenden Intendanten Florian Lutz jede Menge solcher Blickerweiterungen. Mit den spektakulären Raumbühnenprojekten, aber auch mit der ambitioniert experimentierenden Reihe „Kunstwerk der Zukunft“. Hier gibt es den grundsätzlichen Nachholbedarf in Sachen ästhetisch formalen Eigensinns nicht (mehr), wie an vielen anderen, auch größeren Häusern. Gerade daher bleibt nach der jüngsten Premiere die Frage, für welches Publikum ein wenn auch nur knappe zwei Stunden währendes Großspektakel gedacht ist, für das eine kaum auf den Bühnen präsente großformatige Oper nur musikalisch szenische Stichworte liefert. Eine zulässige Frage, da die lockernde und erstarrte Konventionen aufbrechende Wirkung für das Ensemble im vorliegenden Fall längst abgehakt ist. Eine klare Antwort gibt es bislang nicht. Im Moment ist der harte Kern des ausgehungerten Publikums allemal groß genug, um die reduzierten Plätze zu füllen. Immerhin geht die Aufteilung dieses – ohne Täuschungsabsicht als Uraufführung deklarierten – Spektakels in einen Teil im Freien und einen im Saal mit den erhöhten Anforderungen an Lüftung in geschlossenen Räumen konform.
Alles beginnt am Wasserbecken mit ihren Fontänen in der Parkanlage vor dem Opernhaus. Bissl mickrig, um eine ganze Stadt verschwinden zu lassen, aber als theatrale Metapher für das, wovon die russische Oper erzählt, ganz passabel. Auf der Suche nach der verlorenen Stadt (oder der Oper, oder wonach auch immer) geht es dann über die Straße vor das Theater, wo man in einer Jurte allerlei Aktion mit Musik miterleben kann. Inklusive eines russischen Bären, der sich über eine Sängerin hermacht. Danach führt der Weg Richtung Uni – zu einer Lockerungsübung mit Chor, bis sich schließlich alle Wandergruppen im Opernhaus (auf Lücke, versteht sich) versammeln und dem zweiten Teil des Abends folgen. Oder darüber nachdenken, ob sie irgendwo den Anschluss verpasst haben, oder auch nicht.
Jetzt hat Peter Schedding ein Dutzend Musiker der Staatskapelle und zwei Gäste an Schlagzeug und Saxophon um sich versammelt und lässt mit den Beiträgen aufhorchen, die Alexander Chernyshkov neu dazu komponiert hat und die, zusammen mit den von Roman Lemberg arrangierten Anlehnungen an Rimski-Korsakow, den musikalischen Teil einer turbulenten Tonspur bilden, in die alles Mögliche einfließt. Von Gesangshäppchen der Sopranistinnen Angela Braun, Viola Tepe, Jacqueline Zierau, der Mezzosopranistin Marlene Lichtenberg, dem Bariton Martin Gerke und seinem Bass-Kollegen Michael Zehe, bis zu den Textkaskaden der zu einer Hauptrolle aufgewerteten Schauspielerin Gina-Lisa Maiwald. Aber auch zu den Video-Einspielern mit Straßeninterviews (die freilich nicht an die heranreichen, die in diesem Haus den letzten „Fidelio“ punktgenau in die Hallenser Gegenwart hievten). Etwaige Lücken füllt dann allemal der Lärm, der bei Dauerturbulenz auf einer Bühne anfällt, die mit Vehemenz den Eindruck zu vermeiden versucht, man habe ein „fertiges“ Produkt zu bieten. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens all die engagierten Mitmacher auf der Bühne und vorm Opernhaus, die dieses Spektakel am Premierentag sogar zweimal hintereinander absolviert haben, ihren Spaß hatten.