Foto: Léna (Annamária Lang) im Wasserchaos © Heinrich Brinkwerder-Becker/Ruhrtriennale 2019
Text:Andreas Falentin, am 6. September 2019
Ein Triptychon soll dieser Abend sein, geteilt in „Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“, heißt es in den Ankündigungen. Auch in der Vorstellung selber wird Gleichberechtigung behauptet, sind die drei Teile gleich groß mit „Éva“, „Léna“ und „Jonas“ überschrieben. „Evolution“ ist ein sinnlicher, beklemmender, herausragender Theaterabend, ein Triptychon ist er nicht, eher ein von Musik – oder durch Beschäftigung mit ihr – ausgelöstes Schauspiel mit wortlosem Pro- und Epilog.
Die auslösende Musik ist das Requiem von György Ligeti, geschrieben Mitte der 60er-Jahre von einem Menschen, dem die Nazis Vater und Bruder und der Kommunismus die Heimat genommen haben, eine Musik voll geballter, aber nicht unkontrollierter Wut und geradezu zu Stein geronnene Trauer, versehen mit einer Signatur traditioneller ungarischer Musik. Der Lettische Staatschor und die Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane gehen überraschend sanft mit dieser Musik um, die durch die Genauigkeit und Musikalität der Interpretation auch etwas Unnachgiebiges bekommt, den Zuhörenden – fast bedrohlich – immer näher rückt. Und so auch inhaltlich den Abend grundiert.
Zu Beginn betreten drei Männer mit Eimern und Handschuhen einen schmutzigen, schäbigen, von Steinmauern umgebenen Raum. Langsam gewöhnt man sich an das zunächst grelle Gegenlicht. Dann erkennt man die Duschen. Und weiß, wo man ist. Weil es ja diese Musik gibt. Zu „Éva“ läuft das Requiem einmal durch, eine knappe halbe Stunde. Die drei putzen, wischen, finden überall Massen von menschlichem Haar, im Ventilator, in den Duschen, unter den Bodenplatten. Ihnen wird heiß, sie können es nicht mehr aushalten. Dann spritzt Wasser von unten. Und ein Baby schreit. Sie beginnen zu suchen und finden – Haare. Und schließlich das Baby. Einer nimmt es auf den Arm. Sie gehen. Three Godfathers. Und wir wissen nicht, was es soll.
Wir erfahren es im zweiten Teil, den die ungarische Autorin Kata Wèber geschrieben hat. Léna besucht Èva, ihre Mutter, in einer Hochhauswohnung, vermutlich in Budapest. Im Dialog, im verzweifelten Versuch, sich ihre Zuneigung zu zeigen, sich aneinander festzuhalten, erzählen sie uns ihre Geschichte. Éva ist in Auschwitz geboren, unmittelbar vor der Befreiung und hat überlebt, weil polnische Bauern sie zufällig gefunden haben. Aha. Ihr Vater, ein Zionist, ist dann nach Israel gegangen, ihre Mutter hat sich komplett vom Judentum losgesagt. Éva leidet ein Leben lang an Orientierungslosigkeit und einer Art Verfolgungswahn und ist wohl auch seit langem nicht mehr lebenstüchtig. Léna ist frisch geschieden, nach Berlin gezogen und und braucht Geld, das sie von einem jüdischen Entschädigungsfond bekommen kann, wenn sie ihre Herkunft per Geburtsurkunde nachweist. Diese verweigert ihr die Mutter. Es kommt zum Streit, der mit einem großen Bild endet: Die Tochter steht allein in der Wohnung und – wieder – kommt Wasser. Diesmal von überall her. Wie Erinnerungen, die einen immer wieder einholen, einkreisen.
Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó hat sich von seiner Ausstatterin Monika Pormale hierfür eine ganz realistische Wohnküche bauen lassen, durch die wir aber nur zum Fenster hineinsehen. Das Geschehen wird live gefilmt und erscheint auf zwei Projektionsflächen. Einmal tritt Léna ans Fenster, um zu rauchen und steht lange, klein und allein zwischen ihrer überlebensgroß filmisch verdoppelten Mutter. Dazu wieder das Requiem, diesmal ausgeschlachtet. Als Radiountermalung zu Beginn, dann flackern immer wieder Fragmente aus der Komposition auf, spitzen das Geschehen zu, bohren sich gleichsam in die Ritzen, verstärken geschickt das ohnehin grandiose Spiel von Lili Monori (Èva) und Annamária Lang (Lèna) vom koproduzierenden Budapester Proton Theater. Die ungarische Sprache stört da nicht. Die Haltungen sind klar, das Spiel intensiv.
Der Schlussteil ist „Jonas“ gewidmet, Lénas Sohn, der offensichtlich in Berlin von einer What‘s-App-Gruppe gedisst wird, wegen seiner Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und seiner jüdischen Herkunft. Lange Schwänze von Posts laufen über die Leinwände, dann öffnet sich der Raum ins Unendliche, gestaltet von dem Lichtdesigner Felice Ross. Aus einem schwefelgelben Lasertunnel wird ein sich drehender Nebel, in den alles eingeht, die noch einmal das Requiem grandios artikulierenden Choristinnen und Choristen wie die jungen Leute mit ihren Handys.
Kein Wasser mehr. Keine Erinnerungen. Nur Wabern, eine kleine Weltkugel und die grandiosen Gesangssolistinnen Yeree Suh und Virpi Räisänen, die noch im Licht stehen, bevor es ausgeht. Die Musik bleibt uns also. Es gibt Hoffnung.
Wie gesagt: großes Theater. Mundruczós Rhythmusgefühl ist perfekt. Nichts ist zu kurz oder zu lang, die Geschichte der beiden Frauen packt unmittelbar, das Ausfasern in Vergangenheit und Zukunft funktioniert und behauptet zumindest ästhetisch eigenen Wert.
Mundruczós Bilder sind groß, wirken stets bedeutsam, lassen sich aber nicht immer komplett entschlüsseln. Es bleibt stets ein inkommensurabler Rest, der vielleicht, je nach Sichtweise, der Kitschgrenze manchmal nicht zu fern liegt. Das Verfahren mag manchem als beliebig erscheinen, bei „Evolution“ geht es auf, auch weil man die persönliche Beteiligung des Regisseurs zu spüren meint.