Foto: Tänzer Rashaen Arts tanzt sich durch Juanjo Arqués' „Spectrum“ der Einsamkeit © Bettina Stöß
Text:Hartmut Regitz, am 16. Oktober 2020
Die Tage werden kürzer. Die Vorstellungen im Theater auch. Nur deshalb konnte das Ballett am Rhein, über Nacht mit einer neuen Obergrenze von maximal 250 zugelassenen Zuschauern konfrontiert, auf die Schnelle reagieren: Statt einer Premiere gab’s am Abend einfach deren zwei. „Beide ausverkauft“, wie Generalintendant Christoph Meyer nicht ohne Ironie vor dem handverlesenen Publikum bemerkt. Voller Stolz dankt er seinen Mitarbeitern, deren Bereitschaft die gedoppelte Premiere erst möglich macht.
„Far and near are all around“ nennt sich der erste richtige Abend des Ballett am Rhein programmatisch, eine Zeile aus der „Partita for 8 Voices“ von Caroline Shaw zitierend, die der neue Ballettdirektor Demis Volpi zum Abschluss interpretiert. Den Anfang macht allerdings Juanjo Arqués, ein in den Niederlande beheimateter Spanier, mit einer Choreografie, die sich das ganze „Spectrum“ der Einsamkeit zum Thema nimmt. Ganz allein steht Rashaen Arts vor einer weißen Wand, und man weiß bis zuletzt nicht wirklich, ob es seine Sehnsucht ist, die sich hier in eine Gemeinschaft schafft, oder ob es Bilder der Erinnerung sind, die vor ihm noch einmal Gestalt gewinnen.
Wie auch immer man das Gesehene deuten mag: Rashaen Arts schmiegt sich wenig später so lange in eine Schatten-Choreografie ein, bis alle Begrenzung schwindet und der tanzende Körper sichtbar wird. So konkret, wie im Programmheft beschrieben, werden die sieben Miniaturen allerdings selten. Und doch spürt man stets, welches Gefühl jeden Einzelnen aus dem Ensemble bewegt. Es gibt einen dramatischen Satz, in dem sich die angestaute Energie in ausgreifenden Läufen und Drehsprüngen Raum verschafft. Und es gibt einen, der insofern die „History of Touches“ sichtbar macht, als sich Feline van Dijken und Eric White in ihm tatsächlich berühren. Beide „führen einen gemeinsamen Haushalt“, wie es so schön auf dem Besetzungszettel heißt, und dieser Umstand ermöglicht hier eine Vertrautheit, die Arqués ohne jede äußerliche Virtuosität in Szene setzt.
Aufdringlichkeit ist ohnehin seine Sache nicht. Sein „Spectrum“ kennt (auch kostümlich) keine knalligen Farben. Es ist eher das Sanfte, das er sucht. Eine Zartheit, die der Intimität der interpretierten Kammermusik entspricht. Die Musikerinnen und Musiker Franziska Früh, Marina Peláez Romero, Ralf Buchkremer und Nikolaus Trieb stellen sich dem Streichquartett No. 4 von Marc Mellits mit hörbarer, sichtbarer Lust – wie auch dem nachfolgenden Entr’acte, einem „Ritornello“ von Caroline Shaw.
Während Arqués Schwere immer leichtfüßig erscheinen lässt, choreografiert Demis Volpi „A simple piece“ aus dem Stand heraus. Der Abstand bleibt gewahrt. Breitbeinig stehend, kommen die acht Tänzer und Tänzerinnen kaum von der Stelle. Und doch bewegen sie sich in dem Maße, in dem sich auch die Sprechstimmen in der eingespielten „Partita for 8 Voices“ zum A-capella-Gesang verdichten. Das Stück hat etwas Atavistisches, wenn nicht sogar etwas Bedrohliches, gäbe es nicht zwischendurch eine erheiternde Geste, ja, manchmal sogar ein Lächeln. Auf den ersten Blick wirkt es wie ein großes Ganzes – was möglicherweise an den weiten, schwarzen Cowboy-Hosen liegt, die jede Beinbewegung noch effizienter machen. Je länger man indes hinschaut, desto differenzierter gibt sich die Choreografie. Es sind kleine Momente, die das bloß Uniforme verhindern; es sind immer wieder Drehungen, die sich voneinander unterscheiden, minimale Veränderungen, die das scheinbar Einfache unterlaufen. Nähe und Ferne stehen in einem raffinierten Verhältnis, das sich einem erst beim mehrfachen Sehen entschlüsselt. Eine gedoppelte Premiere hat da etwas Gutes.
Unters Opernhausgebälk hat sich ein clownsgesichtiger Luftballon verirrt. Er betrachtet das Ballettgeschehen auf der Bühne ganz offensichtlich mit Vergnügen.