Foto: Szene aus dem 1. Akt © D. Matvejevas
Text:Cordula Treml, am 27. Juli 2016
Der erste Akt beginnt mit einem starken Bild. Ein junges Mädchen steht vor einem riesigen Fenster und blickt unbestimmt hinaus ins Leere. Sanftes gelbes Licht taucht den ganzen Raum in gedämpfte Melancholie. Man fühlt sich unweigerlich an ein Gemälde von Vermeer erinnert. Überhaupt findet Lupa eindrucksvolle visuelle Übersetzungen in seiner Inszenierung von „Heldenplatz“, Thomas Bernhards letztem Stück, das bei der Uraufführung in Wien 1988 einen Skandal auslöste.
In dem kargen Raum mit den hohen Wänden, wo nur mehr ein Schrank, vereinzelte Möbel und Umzugskisten stehen, putzt das Dienstmädchen erst ein Paar Schuhe, dann alle weiteren des verstorbenen Professors. Diese Schuhpaare sind, in der Art einer kleinen Armee, zum Fenster gerichtet, verschwörerisch, anklagend: diesen Ort wählte Professor Schuster, um sein Leben zu beenden. Er beging Selbstmord, durch einen Sturz aus dem Fenster, das zum berühmten Heldenplatz führt. Dort, wo Hitler 1938 den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich proklamierte. Das Leben des verstorbenen Professors, die Aufarbeitung seines Todes durch Familie und Bedienstete, steht im Mittelpunkt des Stückes.
Lupa erweist sich hier einmal mehr als Meister des Details, des nüchternen Hyperrealismus, vor allem aber auch der Stille und Langsamkeit. Allein das minutiös vorgeführte, stumme Bügelritual der Haushälterin Frau Zittel sagt mehr über ihr ambivalentes Verhältnis zum Verstorbenen, als Worte ausdrücken könnten. Absolut faszinierend ist, wie der Pole Krystian Lupa mit den grandiosen Schauspielern des Litauischen Nationaltheaters, allen voran Valentinas Masalskis als Bruder des Professors, exakt den richtigen Ton und Rhythmus für die Sprache des österreichischen Autors trifft: leise, sachte, ja teils in monotonem, fast belanglos wirkendem Duktus vermitteln die Protagonisten überwiegend in Monologform den explosiven Bernhardschen Zynismus, den bissigen Humor und seine brillanten Gedankengänge zum Theater und zur Politik. Bernhard thematisiert auch hier die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs, am Beispiel des Professors, der wegen seiner jüdischen Wurzeln nach Oxford emigrieren musste und in Wien nie wieder richtig Fuß fassen konnte.
Besondere Brisanz erhält das Stück im Kontext der Affäre um den ehemaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim, der trotz seiner Nazivergangenheit 1986 an die Spitze des Landes gewählt wurde. Frappierend ist die Aktualität des Stückes heute. Parallelen zu wiederkehrenden faschistischen Strömungen, zum Aufstieg rechtsextremer Parteien in Österreich, aber auch in Polen, Ungarn, Frankreich oder Deutschland, sind unübersehbar. Lupa gestaltet im zweiten Akt das Bühnenbild, den Landsitz der Familie, bewusst „offen“: Raffinierte Videoprojektionen lassen verschiedene reale Orte zu imaginären europäischen Großstädten verschmelzen. So erhält das Geschehen universelle Gültigkeit.
Hochintelligenter, subtiler Einsatz von Video ist ohnehin eine von Lupas Charakteristika. Der verstorbene Professor etwa sucht die Hinterbliebenen immer wieder heim und fügt sich dabei stets als projizierte Erscheinung unmerklich ins Deko, so im zweiten Akt als einsamer Spaziergänger im Hintergrund. Im dritten Akt ist die gesamte Familie zum Leichenschmaus um eine riesige Tafel versammelt, einer Art letztem Abendmahl: ein greller Lichtspot fällt auf des Professors Witwe in der Mitte, sie hebt den Kopf, lauscht aufmerksam, alle Blicke richten sich auf sie. Der Lärm vom Platz draußen schwillt an, Schreie, ohrenbetäubender Jubel wie bei Aufmärschen. Plötzlich schrilles Klirren von Glas. Das große Fenster zerspringt in Tausende von Scherben. Dann gespenstische Stille und tiefste Dunkelheit.