Foto: Steven Cloos in „All das Schöne“ m Jungen Theter Ingolstadt © Jochen Klenk
Text:Manfred Jahnke, am 30. Juni 2022
Depressionen sind ein tabuisiertes Thema. Was aber, wenn ein siebenjähriges Kind mit dem Selbstmordversuch der depressiven Mutter konfrontiert ist? In „All das Schöne“ entwickelt der britische Dramatiker und Regisseur Duncan Macmillan zusammen mit dem irischen Stand-up-Comedian Jonny Donahoe eine Strategie gegen die Depression: Das Kind notiert sich durchnummerierte Sätze, in denen Glücksmomente festgehalten sind wie z. B. „1. Eiscreme, 2. Wasserschlachten, 3. länger aufbleiben dürfen…“ und so fort. Zehn Jahre später, also mit 17, nach dem zweiten Selbstmordversuch seiner Mutter, setzt der Junge die Aneinanderreihung der Sätze fort. Beim dritten Versuch, der mit dem Tod der Mutter endet, Jahre später, geht er in sechsstellige Zahlen über.
Das Publikum als Mitspieler
Dazwischen aber hat der Mann seine eigenen Erfahrungen machen müssen. Seine Ehe ist in die Brüche gegangen. Er begreift, dass die Sätze des Glücks nicht, wie er glaubte, für seine Mutter bestimmt sind, sondern als Überlebensstrategie für ihn selbst gelten. „All das Schöne“ ist als Monolog konzipiert. Zwischen den biografischen Erzählungen, locker und humorvoll gebaut, sind die Aufzählungen von „Glückssätzen“ wie eine Liturgie einmontiert. Der Clou aber ist – und hier zeigen sich die Prinzipien der Stand-up-Comedy –, dass gezielt Menschen aus dem Publikum zum Spielen animiert werden, so dass der Monolog sich in einen direkten Dialog mit den Zuschauern verwandelt. Rollen wie Tierarzt, Schulpsychologin, Freundin oder Vater erhalten so Konturen, wobei ganz unterschiedlich vorgegangen wird: Mal sind auf Zetteln notierte Sätze den partizipativen Mitspielern und Mitspielerinnen vor der Aufführung übergeben worden, mal souffliert er den Text oder aber – wie bei der Hochzeitsrede des Vaters – es darf ganz frei improvisiert werden.
Souveräner Hauptdarsteller, problematisches Spieltempo
Eine derartige Spielweise birgt Risiken, muss sich der Spieler doch auf nicht eingeübte Situationen einlassen. Steven Cloos macht das am Jungen Theater Ingolstadt souverän. Mit freundlichem Lächeln geht er auf die beim Einlass ausgewählten (?) Mitspieler und Mitspielerinnen zu, führt sie sanft in seine Richtung, lässt sich kaum von neuen Einfällen überraschen. Als junger Mann in Lederjacke, als Student vielleicht, stakst er auf der Bühne. Es gelingt ihm nicht immer, bei seinen Erzählungen die Brüche zwischen Lächeln, Komik und emotionalem Erleben auszuspielen, was auch an dem von Johanna Rehm geschaffenen szenischen Ambiente liegt. Verführt vielleicht von den Musikvorschlägen in der Textvorlage, zumeist Jazz- und Swingnummern (wer kennt noch Ella Fitzgerald?) aus den vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, setzt sie alte, abgenutzte Möbelstücke im Design der sechziger Jahre in den Raum: ein abgewetzter Teppich, ein Phonoschrank, ein Schrank und etwas moderner, die Bank eines Kleinbusses, die jeweils kurz als Handlungsorte angespielt werden: Die Erinnerungen des Protagonisten werden auf diese Weise real vergegenständlicht, was das Spiel zu hemmen scheint. Denn das Wiederheraufholen der alten Erlebnisse macht nichts mit ihm.
Auch die Regie von Johanna Landsberg lässt die Grundsituation – ein Mann blickt auf sein Leben zurück, das, als er sieben war, einen entscheidenden Knick bekommen hat – zugunsten der Glücksmessage nur en passant zum Ausdruck kommen. Sie konzentriert sich stattdessen auf Bewegungsabläufe, wie das Malen der Sätze auf den Bühnenboden oder die aus dem Schrank überquellenden Blätter. Sie kann sich nicht für die Entfesselung eines komödiantischen Spielfurors entscheiden, aber auch nicht für einen psychologisch fundiertem Realismus. Dieses „Dazwischen“ lässt sich auch am Spieltempo ablesen: Was im Spiel mit den Rollen aus dem Publikum funktioniert, gerät bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie ins Stocken.
Die Premiere von „All das Schöne“ fand am Eröffnungstag von Südwind statt, dem ersten Bayerischen Theatertreffen für junges Publikum, das in Ingolstadt noch bis zum 8. Juli kuratiert Inszenierungen aus Bayern zeigt. Nach vielen Anläufen unter anderem in Augsburg oder beim Panoptikum-Festival in Nürnberg und einem Jahr pandemiebedingter Verschiebung hat die bayerische Szene, die in den letzten Jahren einen starken Entwicklungsschub hatte, endlich einen Ort des intensiven Austausches gefunden.