Foto: Tänzerische Synchronität: hier Finn Lakeberg, Milena Wiese, Amber Pansters von der Company tanzmainz © Andreas Etter
Text:Melanie Suchy, am 15. Juni 2020
Irgendwann mitten im Stück senkt sich hinten ein Quadrat ins Blickfeld, eine Ecke nach unten gerichtet. Ach, grün! Die Farbe ist neu, denn die anderen Rechtecke, die im Laufe der 65 Minuten mal herab-, mal hinaufschweben, bis zum Boden kommen wie Wände oder in der Luft pendeln wie von einem Riesenkind angestupst: Sie sind rot und hellrot. Gelb ist der eine Kreis, und auch eine spätere Erscheinung. Als gehörte zu dem Klötzchenspiel auch eine Sonne. Nur haben die Klötze der Ausstattung von Ronja Bendel und Irina Kraft kein Volumen. Sie sind 2D. „Extra Time“ nennt der Choreograph Pierre Rigal sein Werk, das er mit sechs Tänzerinnen und drei Tänzern der Company tanzmainz erarbeitet hat. Der Titel kann gelesen werden als Zeit fürs Spielen, als eine außerökonomische Zeit. Ein Versprechen, ein Geschenk, ein Fluch.
Wie ein ausgeleerter Moment beginnt „Extra Time“ denn auch. Im Großen Haus des Staatstheaters Mainz, „voll besetzt“, in Worten des Tanzdirektors Honne Dohrmann, „bis in die zweiten Ränge“, sitzen etwa 220 Zuschauer. Es ist eine spezielle Zeit. Vorn auf der Bühne steht ein einziger Mensch und tut nichts, rein gar nichts: Milena Wiese in Sportklamotten und schwarzer Topffrisur, die Augen geschlossen. Vielleicht kann sie so die Welt anhalten oder, im Gegenteil, alles Bewegte imaginieren. Es tauchen zwei Figuren auf, Mann und Frau, die rechten Unterarme samt Hand leicht erhoben wie zum Gruß. Sie gehen, stehen, wenden, wie Simpel-Avatare der Computerwelt. Schauen sich an auf zehn Meter Abstand, irgendwie ratlos. Die Immobile regt sich dann auch, erst nur eine Hand, mit Krallenfingern, die herumschlängelt, dann die andere, bis das Kurven und Räkeln in die Schultern, den Brustkorb, den ganzen Körper eindringt. Oder schon drin war und wächst. Ein Werden von Bewegung von einem Nullpunkt aus – damit greift Rigal eine Grundidee aus seinen früheren Werken auf.
Es hat jedoch stets etwas Mechanisches, Ausgedachtes oder zu stark vom Visuellen aus Konstruiertes, was wohl bei dem Filmemacher, der Rigal auch ist, nicht verwundert. Der Choreograph, Jahrgang 1973, früherer Leistungssportler, ist in Deutschland noch nicht so bekannt wie in Frankreich, wo seine Company Dernière Minute in Toulouse ihren Sitz hat. Er hatte mit den Mainzern „Welcome Everybody“ erarbeitet, im Rahmen der Kooperation FranceDanse 2019, bis zwei Wochen vor der Premiere nichts mehr ging. Er plante spontan um entlang der gerade aktuellen Pandemiekontaktregularien. „Extra Time“ baut er so auf, dass mehrmals etwas anfängt und zu Ende geht. Falsche Enden bescheren extra Zeit, ermüden aber auch das Zuschauen. Die Idee, die Körperteile lauter Ecken formen, also Linien ausfahren und knicken zu lassen, wirkt in der vorgeführten Ausführlichkeit öde. Unterkomplex. Der Witz der forcierten Zweidimensionalität, der Flachheit, ist nur einer, wenn man die forcierte Scheiben- oder Bildschirmhaftigkeit des kulturellen und sozialen Lebens in diesen Zeiten mitbedenkt.
Dazu passt all das Eckige der Choreographie, möglicherweise verweist es auch auf alte Bauhaus-Zeiten. Hinzu kommen Gesten des Posierens und Zurechtzuppelns wie vor Spiegeln, Standbein-Spielbein, Halbprofil, Hand auf Hüfte. Ticks wie beim Warten, Kratzen, Haarestreichen, das Kinn auf die Hand zu stützen, füllen leere Zeiten. Rigal choreographiert diese Sammlung geschickt, so dass plötzlich zwei oder drei Tänzer dasselbe machen, was dadurch sichtbarer wird, hinter ihnen setzen vier andere erst einzeln, dann unisono Haltungen und Wechsel zusammen. Größere und kleinere Getümmel driften so vom scheinbaren Chaos lauter Vereinzelungen ins Gruppieren, was jedoch nichts an den Einzelnen verändert. Figur bleibt Figur im Spiel.
Eine von ihnen kriegt zwischendurch eine Art Eigenleben; Nora Monsecour krümmt und windet sich, fährt die langen Arme aus, ruckt den Kopf und wirkt in ihrem Ringelshirt und den Hosenträgerhosen wie ein Extra-Clown. Einer ohne Wirt oder Zelt. Ansonsten treiben die Bühnenbewohner auf den manchmal auf- und abfahrenden Bühnenbodenelementen immer mehr Sport. Immer mehr Bewegung, wie es jenes erste Solo als Prinzip darlegte. Ob aus Lust oder Aktivitätszwang, ist nicht zu erkennen, eine schöne Ambiguität: Da sind regelrechte Hampelmänner mit koordinierten Bein- und Armwürfen zugange, Beugen, Strecken, vorne, hinten, seitlich, kreuzend, immerzu wiederholt und dann variiert. Auf und ab. Hüpfen im Takt. Üben, üben, üben. Mancher Schwung mit Gruppe mit breiten Beinen erinnert eher an Tanz, das Sitzen auf dem Hintern mit schräg erhobenen, gestreckten Beinen an Gymnastik, das Kreisen am Platz an Uhrzeiger, und die sinnlose Vielfalt an Einfällen könnte einem Überdruss an brav befolgten tausend Online-Yogastunden entspringen. Nur fehlt der Witz.
So bleibt „Extra Time“, das eine eigens erstellte Elektronikkomposition von Gwen Drapeau grundiert und später zunehmend aufdringlich antreibt, mit Georgel, Glockenspiel, Theremin-Gesang, Geratter, gerufenen und geflüsterten Worten und Zahlen, „5-6-7-8“, ein Vorschlag. Vor der Zeit, in ihr, mit ihr.