Foto: Vorsicht, Femme fatale! Jenifer Lary als männermordende Lulu © Susanne Reichardt
Text:Detlef Brandenburg, am 18. April 2021
Wieder mal so ein Theatererlebnis am Bildschirm, das einem mehr Anlass zu Nachdenken über das Genre Oper als Stream als über das gespielte Werk und seine szenische Deutung gab. Axel Vornams Inszenierung von Alban Bergs unvollendeter Wedekind-Oper „Lulu“ am Theater Heidelberg war offensichtlich weniger für eine den Blick lenkende Bildregie gemacht als vielmehr für leibhaftige Zuschauer, die die Totale des Halbkreis-Bühnenbildes von Tom Musch mit dem eigenen Blick erkunden. Hier aber hechelte die Bildregie dem szenischen Geschehen in hektischen Schnittfolgen hinterher und brachte dem Zuschauer mit ihren Close-ups doch nur eine chargenhaft überzeichnende Personenregie allzu nahe, die in der Totale vielleicht besser gewirkt hätte. Die Lichtregie von Ralf Kabrhel mochte für leibhaftig im Saal anwesende Zuschauer passend sein, auf Bildschirm wirkte sie (zumindest in meiner Übertragung) arg düster. Dann brach auch noch der Stream (zumindest in meiner Übertragung) mehrfach zusammen und wurde zwar nach Sekunden schon wieder fortgesetzt; aber Gap bleibt Gap, zumal in der Oper.
Und dann blieb da auch noch die Frage, ob es für leibhaftig anwesende Zuschauer, wenn denn die Premiere, wie geplant, irgendwann für Präsenz-Publikum nachgeholt werden kann, überhaupt allzu viel zu entdecken gäbe. Axel Vornams Inszenierung findet zu dieser gerade vor dem Hintergrund aktueller #MeToo-Debatten ja weiß Gott herausfordernden Frauenfigur so gar keine gegenwartsrelevante Haltung. Cornelia Kraskes Kostüme verweisen auf einschlägige Zwanziger-Jahre-Bohème mit ihren Varieté-Typen und dem Halbwelt-Bürgertum, das man von Otto Dix oder Max Pechstein kennt. Passend dazu evoziert die Halbreis-Wand von Tom Muschs Bühne die Arena-Metapher, die vielen Türen eignen sich prima für die Screwball-Comedy-Elemente der über Strecken mächtig turbulenten Handlung. Und die Kintopp-Überdeutlichkeit, mit der Vornam die Handlung brav vom Blatt spielt, weist in dieselbe Richtung. Das Spielen mit Lulus immer neuen Roben und den Filmprojektionen von Lulus Augen und Mund akzentuiert überdeutlich das Thema der Projektion von Femme-fatale-Klischees, in denen Lulus Persönlichkeit vollkommen aufgeht. Es war nach dieser Lesart also keineswegs die „Büchse der Pandora“, die die „Schlange“ Lulu hervorgebracht hat, sondern es waren männliche Wunschbilder von erotisch verfügbarer Weiblichkeit. Das alles ist natürlich nicht falsch – es ist vielmehr nur allzu richtig.
Pandemie-bedingt spielt man in Heidelberg die Kammermusik-Fassung von Eberhard Kloke, Komponist und kluger Arrangeur vom Dienst der Opernszene. Allerdings offenbar nicht so, wie sie 2012 in Gießen das Licht der Scheinwerfer erblickte. Hier in Heidelberg gibt es vor dem unvollendeten III. Akt einen scharfen Schnitt auf Lulus Tod, von dem nur Lulus „Nein“, ihr Schrei und die letzten Worte der Gräfin Geschwitz geblieben sind. Im Kontext dieser Inszenierung liest sich das so, dass Lulu erst im gemeinsamen Sterben mit der lesbischen Gräfin Befreiung und eine wahre Gefährtin findet. Was in seiner Konsequenz überzeugt. Das reduzierte Klangbild ersetzt das teils im Oskar-Klimt-Gold schimmernde, teils grell aufgleißende Kolorit der Original-Instrumentation durch strukturelle Klarheit, die Heidelbergs Generalmusikdirektor Elias Grandy mit pulsierender Energie auflädt. Das Ensemble ist durchweg ausgezeichnet, allen voran die teils ungewohnt lyrisch klingende, aber stets rollendeckende Lulu von Jenifer Lary, der elegant-charaktervolle Dr. Schön von James Homann und der flexibel-klangvolle Alwa von Corby Welsh. Aber auch kleinere Partien wie beispielweise Ipča Romanović als Tierbändiger waren bemerkenswert gut besetzt.
Auffällig war ein insgesamt sehr hoher Klangpegel – zumindest in meiner Übertragung. Wenn die Premiere tatsächlich nochmal live über die reale Bühne geht, wird man sich überzeugen können, ob dieser und andere Eindrücke sich dann zurechtrücken.