Foto: "Tschewengur", der erste Castorf am Schauspiel Stuttgart © Thomas Aurin
Text:Detlev Baur, am 23. Oktober 2015
Der Beginn ist verhalten, fast wirken die Darsteller unsicher. Andreas Leupold spielt den Dichter Andrej Platonov, Autor des Romans “Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen”, der sich mit Werken wie “Tschewengur” so kritisch wie utopisch-sympathisierend mit dem Kommunismus auseinandersetzte, was ihm nicht gut bekam; der 1939 vollendete Roman erschien erst 1972 in Paris, auf deutsch ist er derzeit gar nicht erhältlich. Frank Castorf bringt den Roman und seinen Dichter in fünfeinhalb Stunden auf die Bühne des Schauspiels Stuttgart: mit zehn Schauspielern des Ensembles, auf einer Bühne von Aleksandar Denic. Auf die intensiv genutzte (nach der Sanierung des Hauses ja nur mühsam in Gang gekommene) Drehbühne hat der einen faszinierenden russischen Revolutionsmikrokosmos gebaut: Ineinander verschachtelt befindet sich da erhöht eine riesige, schnittige sowjetische Lokomotive, mit einem orthodoxen Kreuz im Schornstein. Im Innenraum des Stahlbauchs – mit Hilfe eines Kameramanns und eines Tontechnikers werden weite Teile des Spiels live auf zwei in die Bühnenkonstruktion integrierte Leinwände projiziert – sind sacral anmutende Revolutionsbildchen aufgehängt. Unter der Lok finden sich eine Holzhütte, ein kleiner stacheldrahtumgrenzter Bereich und ein rotes Auto (Moskwitsch?), genauso räderlos wie die Lokomotive. An einem Holzturm, der die Lokomotive noch überragt, sind schließlich Windmühlenflügel befestigt. Die beiden Hauptfiguren des Romans, die auf dem Pferd “Proletarische Kraft” durch das revolutionäre Russland reisen und in der chaotischen Idealstadt Tschewengur landen, gelten auch als Don Quixote und Sancho Pansa.
Doch wird der Platonow-unerfahrene Zuschauer – und das dürfte, schon gar in Stuttgart, fast jeder sein – wie üblich bei Castorf nur extensiv über die Geschichte der Figuren informiert. Mit der Biographie des Autors verwoben, wechseln die Schauspieler unvermittelt die Rollen, die Chronologie der Erzählung ist aufgebrochen, so dass erst nach gut zwei Stunden Motive vom Romanbeginn auftauchen. Alles fließt ineinander, die Darsteller wechseln, auf dem Höhepunkt der revolutionären Erregung in Tschewengur, in ihrer Besprechung im Holzkabuff in der Anrede des anderen auf die realen Vornamen der Mitspieler über. Ausdrücklich “komplizierte” und “unverständliche” Reden zur neuen Gesellschaft sind der Grund ihrer Begeisterung.
Längst ist da der zaghafte Beginn des Spiels vergessen, sehr laute, oft monologische Gespräche prägen die Darstellung. Im Mittelteil sind sie mit russischer Filmmusik unterlegt, gehen auch in arienhafte Reden über; immer mehr übernimmt jedoch amerikanischer Sound, von der englischsprachigen Sowjethymne bis zu den Rolling Stones, die musikalische Oberhoheit, so wie auch Coca-Cola-Schildchen und -Dosen die russische Revolutionsbühne untergraben.
Alles dreht sich also im Kreise, an der Mühle, auf der aufgehängte Darstellerinnen das Revolutionsspiel schließlich zu einem fatalistischen Gleichnis machen, und auf der rotierenden Drehbühne. Erstmals in Stuttgart inszenierend schenkt Castorf den Schwaben gar nichts, sondern macht Theater wie in Berlin. Ohne Kompromisse “dreht” er sein Ding, unaufhörlich um das ferne Thema russische Revolution kreisend, mit aufgedrehten Gestalten, die sich für Ideen ereifern und nebenbei Slips waschen oder Ehebruch begehen. Dabei gelingt es Castorf auch in Stuttgart, die Darsteller zu kunstvoller Selbstverausgabung zu bringen. Besonders sind da Astrid Meyerfeldt, Matti Krause und Wolfgang Michalek zu nennen.
Das ist nicht neu und tut nicht weiter weh, auch wenn es nach einigen Stunden unvermeidlich ermüdend wirkt. Der Altmeister lässt sich nur noch in routinierten Witzen auf das gequälte Publikum ein und kreiselt ansonsten um seine Welt, bohrt mit Kunstblut in den Wunden der Welt, lässt die Gestalten am Erbrochenen ersticken oder sich im Wassertrog ertränken. Im Grunde ist dieses Theater ein monologisches Reden, ja ein Selbstgespräch des Regisseurs, der bekanntlich kein Ende finden mag.
Das ist nach wie vor so langweilig und vermessen wie eindrücklich, Castorf eben. Neu scheint mir in Stuttgart einzig das Element der Montage von Live-Bildern von Akteuren in reale (sowjetische) Filme, die zwischen Kunstwerk und Geschichtsdokument die Folie für die fragmentierten Gestalten bieten.
Verschärft wird die Eigenheit dieses Theaters noch durch die Fremdheit des Textes bei keinerlei pädagogischem Interesse der Textfassung und Inszenierung sowie die ferne Welt einer russischen Welt aus Historie und Utopie. In seiner Hermetik und ausschweifenden Erzählweise hat der lange Abend wieder eine eigene Kraft, nah kommt er einem nur schwerlich, aber irgendwas bohrt sich doch in Gehirn und Gedächtnis des Zuschauers ein. Ein Drehen und Kreisen, wirre Bewegung, lautes Anreden gegen Dunkelheit. Nun aber genug, Schluss jetzt, das soll hier nicht ewig so weitergehen.