Das Schwimmbad als Exil

Caroline Wahl: 22 Bahnen

Theater:Volkstheater Rostock, Premiere:25.01.2025 (UA)Regie:Konstanze Kappenstein

Caroline Wahls „22 Bahnen“ wurde am Volkstheater Rostock kompakt inszeniert und zeigt die Kontraste zwischen zwei Töchtern einer alkoholkranken Mutter. Regisseurin Konstanze Kappenstein verlässt sich auf ein intensives Spiel des Ensembles.

Es ist eine atemlose Geschichte. Alle ringen hier um Luft zum Überleben, aber diese scheint ein knappes Gut. Im Luftanhalten ist Tilda richtig gut, fünfundzwanzig Meter taucht sie ohne Probleme. Das liegt auch daran, dass sie so viel Zeit in der Schwimmhalle verbringt. Schwimmen, abtauchen, den Atem so lange wie möglich anhalten, wieder auftauchen – das ist das Muster ihres jungen Lebens.

Dabei hängen an ihr so viele schwere Gewichte, dass es einem Wunder gleichkommt, dass sie so leicht durchs Wasser gleitet. Ellen Neuser spielt in der Inszenierung von Konstanze Kappenstein am Volkstheater Rostock Tilda bravourös als eine junge Frau, die sich gefangen weiß in rasenden inneren Monologen und knapp gehaltener Konversation mit der Außenwelt. Der Abend dauert kompakte 80 Minuten, episch kann man das nicht nennen.

Kurztexte und Stakkato-Stil

Aber auch das Erfolgsbuch der 1995 in Mainz geborenen Caroline Wahl ist im Stakkato-Stil geschrieben und endet nach gerade einmal 208 Seiten. Ein minimalistisches Buch mit expressivem Gestus – das passt wohl zum Selbstverständnis von Wahls Generation der Dreißigjährigen, die bereits mit Kurztexten sozialisiert wurden. Bloß kleine langen Erklärungen abgeben, so wenig Reflexionen wie möglich anbieten, keine Umstände schildern oder komplizierte Psychogramme entwickeln – es ist wie bei dem weißen Hasen in „Alice im Wunderland“, der immerzu ruft, er habe keine Zeit, doch warum eigentlich hat er sie nicht?

Vielleicht ist es das Verkaufsgeheimnis von Wahls Roman, dass er dem Leser nicht die Zeit stehlen will. Das Erfolgsgeheimnis dieser konzentrierten Inszenierung aber ist, dass er dem Zuschauer immer wieder Pausen schenkt, in denen – scheinbar – nichts passiert. Der Roman forciert unaufhörlich die scharfen Kontraste zwischen den beiden Töchtern Tilda und Ida und ihrer alkoholkranken Mutter. So hören wir hier aus Tildas Mund: „Sie ist wie eine tickende Zeitbombe und heute tickt sie besonders laut.“ Tilda ist begabt, sie hat Mathematik studiert und soll ein Promotionsstudium in Berlin aufnehmen. Aber gerade jobbt sie in einem Supermarkt, weil sonst kein Geld für die Mutter und die kleine Schwester Ida da wäre. Kann sie beide denn allein zurücklassen?

Selbstschützende Kinder

Marie-Luise Kuntze gibt der elfjährigen Ida jene unkindliche Frühreife, wie sie in einer emotionalen Wüste erwächst. Die Mutter sehen wir nicht, sie ist hier auf der Bühne – wie im Leben der beiden Töchter – nicht anwesend. Sie beschützt ihre Kinder nicht, sondern muss von ihnen immer wieder vor sich selbst geschützt werden.

22 Bahnen Volkstheater Rostock

Ben Gebel, Ellen Neuser und Marie-Luise Kuntze. Foto: Thomas Mandt

Worum geht es hier eigentlich? Um das Reifen einer Entscheidung in Sachen Gehen oder Bleiben? Eher nicht. Hier entwickelt sich nichts und niemand. Es ist ein Roman in Schlaglichtern – und einen solchen so auf die Bühne zu bringen, dass sich dennoch ein Zusammenhang zwischen den Episoden herstellt, dass erfordert eine unerhörte Intensität des Spiels der drei Darsteller. (Ben Gebel ist als Viktor und zugleich der bei einem Autounfall getötete Ivan der starke männliche Bezugspunkt von Tilda und Ida.) Da zeigt sich kluge Regie: denn die Bilder des Verunglückten und des helfenden Freundes gehen bruchlos ineinander über. Tildas Problem steckt in ihrer Frage, was nach dem Abschied komme. Das Wort Ankunft fällt ihr nicht ein.

Unterwasserbühnenbild

Es kommt ein liquides Element ins Spiel: Isabell Wibbekes ebenso minimalistisches wie universelles Bühnenbild. Es ist wie der Blick in eine Unterwasserwelt. Schon einen Meter unter der Oberfläche gelten andere Gesetze, nicht nur für den Atem. Es ersteht keine zauberhafte Gegenwelt, in der man träumen kann. Nein, Folien werden wie billige durchsichtige Vorhänge hin und hergeschoben wie auf einer Baustelle. Nach dem Willen von Caroline Wahl ist es überall kühl, ausrechenbar-nüchtern und traumlos – aber dabei doch so schillernd wie ein unbestimmtes Versprechen.

Was zeigt uns das Bild von Tilda in dieser punktgenauen Inszenierung eines Textes, der wie ein Hilfeschrei wirkt, den sich jemand selbst, noch bevor er den Mund erreicht hat, verbietet? Eine hochgradig individualisierte junge Frau zwischen Hafer- und Sojamilch, die, von Ersatzprodukten umstellt, das echte Leben sucht. Die solidarisch mit anderen sein will, aber es oft nicht sein kann. Die sich verwirklichen möchte, aber dabei mit dem Nihilismus zu kämpfen hat, der jede Anstrengung entwertet. Die sich im Schwimmbad wie in einem Exil verbirgt, die geschwommenen Bahnen zählt und auf bessere Zeiten wartet.

Tiefenlos oder Porträt einer jungen Generation

Folien und Licht verfremden die Szenerie zu einem ineinander fließenden Blau von Wasser und Himmel. Das transzendiert den Mutter-Tochter-Konflikt zu einem artifiziellen Ereignis, an dem wir hier teilhaben. Fehlt da nicht etwas, die Tiefe der Erzählung etwa, die weiteren sozialen Koordinaten? Vielleicht, aber das, was wir hier sehen, ist ein fulminanter Spannungsbogen, der im Zusammenspiel der drei entsteht und das Porträt einer jungen Generation erschafft. „22 Bahnen“ nimmt es dort wieder auf, wo es Wolfgang Herrndorf mit „Tschick“ und „Bilder deiner großen Liebe“ einst liegen lassen musste.