Foto: Rosa Lembeck, Magne Håvard Brekke und Hildegard Alex samt Wachsfiguren © Matthias Horn
Text:Michael Laages, am 14. März 2025
Christoph Marthaler inszeniert mit „Wachs oder Wirklichkeit“ eine Art Revival des legendären „Murx“-Abends aus den 1990er-Jahren. Die melancholischen Töne, die Schauspieler:innen und Musiker:innen zwischen Wachspuppen treffen, lassen wieder ein traurig-schönes Familienfest entstehen.
Die internationale Karriere des Theatermachers und Musikers Christoph Marthaler begann vor über drei Jahrzehnten mit dem „Murx“-Abend an der Ost-Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, der Dramaturg Matthias Lilienthal hatte Marthaler aus Basel mitgebracht. Neben dem damals neuen Hausherrn Frank Castorf und Volksbühnen-Gast Christoph Schlingensief wurde Marthaler zur prägenden Persönlichkeit der Epoche. Jetzt, im Übergang zwischen dem verstorbenen Intendanten René Pollesch und dem zukünftigen Leiter, dem Rückkehrer Matthias Lilienthal, ist auch der Regisseur zurückgekehrt ans alte Haus und (sozusagen) in die alte Heimat – „Wachs oder Wirklichkeit“ heißt der Abend.
Im Wachsfigurenkabinett
Der Titel weist in die richtige Richtung – allerdings ist das Publikum nicht zu Madame Tussaud eingeladen, sondern ins Wachsfigurenkabinett von Madame Viebrock. Die Bühnenbildnerin Anna Viebrock, an Christoph Marthalers Karriere so sehr beteiligt wie er selber, hat in einem feinen Salon mit schön geschwungener Galerie im oberen Stockwerk ein paar Zeitgenossinnen und Zeitgenossen platziert, die (vielleicht) tatsächlich aus Wachs sind und in jedem Fall bewegungslos bleiben. Rechts vorn scheinen Heino und der notorische Fernsehkoch Horst Lichter zu stehen, oben sind Karl Lagerfeld und (vielleicht) der Dirigent Seiji Ozawa als Puppen verewigt. Gelegentlich werden einige der realen Spielerinnen und Spieler wie eingefroren hineingetragen und dazu gestellt – dann wird das Motto am deutlichsten sichtbar: Wer ist aus Wachs, und wer ist wirklich und echt?
Die Aufseherin ist derweil fleißig mit dem Staubwedel unterwegs, putzt auch die echten Wesen und ruft ihnen gelegentlich das Zauberwort des Abends zu: „Nicht einschlafen!“ Das weckt natürlich Erinnerungen an Marthalers frühe Zeiten – da wurde gern mal auf der Bühnen „Schlafen“ gespielt. Vor gar nicht so langer Zeit bestand eine Hamburger Produktion des Theater-Sonderlings aus der Schweiz sogar tatsächlich fast nur aus Menschen auf Matratzen…
Mistreiter:innen von „Murx“
„Wachs oder Wirklichkeit“ steckt voller Erinnerung; auch weil drei Mitglieder aus dem legendären „Murx“-Ensemble von 1993 dabei sind: die österreichische Schauspielerin Olivia Grigolli, ihr aus Norwegen stammender Kollege Magne Havard Brekke, der Teil des frühen Castorf-Teams war und inzwischen mit dem Pianisten und Sänger Jürg Kienberger eine Band betreibt; der ist der dritte aus dem originalen „Murx“-Ensemble. Kienberger war damals der berühmte „Danke“-Choral zu verdanken, den die allein gelassenen DDR-Lemuren anstimmten auf Anna Viebrocks Bühne. Motto damals: „Damit die Zeit nicht stehen bleibt“ … bei Marthaler und Viebrock blieb sie stehen.
Noch eine Figur ist ganz von damals: Hildegard Alex. Die Schauspielerin gehört seit 60 Jahren zur Volksbühne – und repräsentiert hier auch Marthalers Erinnerungen an Susanne Düllmann oder Heide Kipp, die an der Volksbühne und für den Erfolg des Regisseurs eminent wichtig waren; und mittlerweile verstorben sind. Hildegard Alex wird zu einem der echten kleinen Wunder in „Wachs oder Wirklichkeit“: mit dem Staubwedel, gegen Ende in einem Kostüm wie Englands ewige Königin, und mit dem schönsten Lied des Abends, Franz Grothes Phantasie von der Nacht, die ganz leise kommt aus weiter Ferne. Sehr zerbrechlich klingt das – und zum Heulen schön.
Skurrile Momente
Generell gibt’s in „Wachs oder Wirklichkeit“ Momente schwerster Melancholie. Das liegt vor allem daran, dass die Texte von einem der herausragenden Einzelgänger der Literatur stammen: vom Schweizer Schriftsteller und Musiker Jürg Laederach, der 2018 starb. Zwar schrieb er auch Theaterstücke – ein dreiteiliges „Oratorium“ wird aufgeführt in „Wachs oder Wirklichkeit“ und zwingt unter dem Titel „Klein H in Pankow Süd“ ziemlich viel historisches Personal zusammen: Hitler, Honecker und Churchill etwa, aber auch einen schnarrenden Roboter rechts außen auf der Bühne, der sich als Waffenlieferant und bewährter Folterknecht anbietet. Vor allem aber zelebrierte Laederach stets extrem skurrile Montagen aus Material und Marotten des menschlichen Alltags, etwa ein extrem schräges Telefongespräch, das nicht zustande kommen kann, weil immer ein Partner gerade aus dem Zimmer geht und nur dann das Telefon klingelt.
Laederachs Miniaturen tragen den Patchwork-Abend voran, geben ihm viel Unsinn – und manchmal auch Sinn. Zusammengehalten aber wird alles (und das hätte dem praktizierenden Jazzmusiker und Jazzkritiker Laederach sicher gut gefallen) durch die beiden Musiker (neben Kienberger auch Clemens Sienknecht) sowie Sängerinnen und Sänger: allen voran die (wie Brekke) aus Norwegen stammende Tora Augestad, die so besonders ist, weil sie in der Klassik wie in Folk und Jazz und Soul zu Hause ist. Sie ist wie Marthaler selbst ein Unikum; in Basel arbeiten sie regelmäßig zusammen. Um Augestad formiert sich das Ensemble immer wieder zum Chor, ob im Madrigal-Gesang oder im finalen Pop-Hit „That’s what friends are for“, den ursprünglich Rod Stewart gesungen hat und dann Dionne Warwick… hier singen Marthalers Freunde.
Und das ist diese Rückkehr nach Berlin vor allem: ein Familienfest, eine Freundschaftsbekundung über die Jahrzehnte hinweg. Der theatralische Zauberkünstler Christoph Marthaler wird im Oktober 74 Jahre alt, und durch einige der Laederach-Texte klingt durchaus auch die Erschöpfung und Melancholie nach einem langen künstlerischen Leben. Zu retten ist die Welt wohl nicht und Aufbruch ist nicht mehr. Aber solange wir noch beineinander sitzen können und einem der amüsantesten und kreativsten Theater-Erfinder unserer Zeit in die Werkstatt schauen und Zeuginnen und Zeugen typischer Marthaler-Basteleien werden können, ist doch alles gut. Irgendwie.