Foto: Eugene Villanueva als beflissener Hausmeister und der Chor des Staatstheaters in "Moskau, Tscherjomuschki" in Braunschweig © Thomas M. Jauk
Text:Andreas Berger, am 20. Mai 2018
Neco Celik treibt Schostakowitschs „Moskau,Tscherjomuschkl“ am Staatstheater Braunschweig mit toller Personenführung ins Absurde.
Wenige Kilometer ostwärts von Braunschweig lauerte auch in Deutschland hinter der Grenze die Platte. Weniger vorzeigbar sicher als die Moskauer Mustersiedlung “Tscherjomuschki”, die Dmitri Schostakowitsch 1959 zum Thema seiner charmant-satirischen Operette “Moskau, Tscherjomuschki” machte. Dort zieht es eine bunte Gruppe Sowjetbürger, denen eben irgendwo in idyllischen Stadtvierteln Moskaus der Altbau über dem Kopf zusammengebrochen ist, zu reichlich süffigen Walzerklängen in eine neue Trabantensiedlung vor den Toren der Hauptstadt. Wo sich die deftig charakterisierten Typen zusammenraufen müssen und auch ein paar satirische Spitzen gegen die korrupte Parteiallmacht abfallen: Der Hausverwalter Barabaschkin verschafft dem Funktionär durch Zusammenlegung eine größere Wohnung, die nun Lidotschka fehlt.
Ausstatter Stephan von Wedel hat sich für die Inszenierung am Staatstheater Braunschweig allerdings nicht an der realistischen Plattenbauweise orientiert, sondern stellt teils transparente Einraumschachteln unverbunden auf die Drehbühne, die wie die Zwischenvorhangelemente mit Videos bespielt werden. Russische Birken für romantische Wohnvorstellungen wechseln mit Babuschkapuppen für klischeehaftes bürgerliches Glück. Fäuste und Hände entstammen der Propaganda, oft bleiben die Wände aber auch grau.
Nun waren ja Plattenbauten keine Traumkulissen. Aber von Wedels Abstraktion macht die Bühne unsinnlich. Echte Luftballons sind eben knalliger als gestreamte. Und von dem spektakulären Auftritt via Kran, mittels dessen der pfiffige Gelegenheitsarbeiter Boris der verehrten Lidotschka doch noch Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft, bleibt nur eine Sängerin an Haltegurten. Als die Bürger mit Stehlampe und Gummibaum im Gegenlicht anrückten, sah das zunächst spannender aus, aber die Schachtelstadt bleibt öde.
Regisseur Neco Celik allerdings ist ein Virtuose der Personenführung, weiß die Massen zu einem Individuenschwarm mit hundert Details zu arrangieren und nutzt die Typenkomödie durch Karikatur weidlich aus. Der Chor zieht da wunderbar mit, entfaltet auch mitreißende Kraft. Wie überhaupt die spielfreudigen Sänger den Abend prägen. Allen voran Vincenzo Neri als sympathischer Traumtänzer Boris, der als Rosenverkäufer sein Glück machen will und dabei sein sehnendes Herz wie seinen geschleiften Rosenstrauß an die Frau zu bringen sucht. Neri lässt dazu seinen so weichen wie klangprächtigen Bariton in lyrischen Couplets ertönen.
Aber die Frauen des Sozialismus sind kompliziert. Jelena Bankovic als plötzlich wohnungslose Lidotschka glänzt in blühenden Kantilenen, lässt den armen Boris aber im Ungewissen. Als selbstbewusste Handwerkerin Ljusja trumpft Ivi Karnezi mit kräftigem Sopran auf und lässt den agilen Chauffeur Sergej (Matthias Stier) schmachten. Und Carolin Löffler als luxussüchtige Wawa heizt ihrem Funktionär (Michael Eder) bei allem ranschmeißerischen Gepiepse tüchtig ein, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Löffler macht das auch sängerisch zum Kabinettstück mit rassigem Ton. Dagegen steht die bürgerliche Milde Milda Tubelytes als Mascha, die sich mit ihrem intellektuellen Mann (Maximilian Krummen) über die erste gemeinsame Wohnung und nicht quietschende Türen freut. Eugene Villanueva als Hausverwalter nutzt seine Macht zur restriktiven Schlüsselvergabe, denn er weiß: Solange sie nur Menschen sind, kann er sie als Bittsteller behandeln, als Mieter aber stellen sie Ansprüche.
Das ist natürlich auch Kleinbürgersatire, bekommt aber seinen Charme dadurch, dass sich am Ende das Volk zusammentut, um Lidotschkas Ansprüche gegen den korrupten Parteiapparat durchzusetzen. Regisseur Celik traut dieser Vision offenbar nicht und lässt die Figuren zum großen Traum in Galaroben der Zarenzeit schlüpfen oder was so putineske Kleinbürgerfantasien mehr sind. Bis zum Gruppenbild mit Eisbär, Turniertänzern und dem Hausverwalter auf der Kloschüssel. Diese Überzeichnung ins Absurde nimmt dem Werk am Ende die Poesie und Aufbruchsstimmung, die der Tscherjomuschki-Walzer entfaltet. Schließlich bringt Schostakowitsch neben Korruption und Egoismen auch Bauernschläue und Gemeinschaftsgeist in Stellung. Celiks Inszenierung hinterfragt so nicht bloß wie Schostakowitsch das System, sondern auch das Volk und sein Potenzial zur Menschlichkeit. Was bleibt, ist gaga, und das ist dann auch wieder trostlos. Und lässt die Längen in der immer konfuseren Handlung spüren.
Vor lauter Walzern und Galopp wähnt man sich musikalisch zunächst fast in Wien, bevor die Lieder mehr russisches Kolorit einbringen. Iván López Reynoso am Pult des genüsslich aufspielenden Staatsorchesters gibt da tüchtig Schmackes, lässt die Pauke knallen, wechselt rasant zwischen den Tempi und Temperamenten, gezupften und gestrichenen Walzern, lyrischen Liedern und Chorpower. Das ist musikalisch nicht eben komplex, aber doch sehr unterhaltend und könnte so bei einer etwas charmanteren Inszenierung für eine noch immer mögliche gute Sache begeistern. So blieb mehr die Begeisterung über den tollen Einsatz des Ensembles.