Foto: „Luci mie traditrici“ bei den Wiener Festwochen © Monika Rittershaus
Text:Barbara Eckle, am 18. Mai 2015
Die Geste ist schnell verstanden, ihre Wirkung ebenso schnell verpufft, dennoch zieht sich das der Tragödie vorgezogene Satyrspielchen „Tag aus Nacht ein“, mit dem Achim Freyer den ästhetischen Ton seines Ansatzes etabliert, in irritierende Länge, bis das Stück endlich beginnen darf. Groteske Figuren im Commedia dell’arte-Stil mit symbolträchtigen Objekten wie überlebensgroßen Äpfeln, blutbefleckten Gewändern, schwarzen Blumen und Hackebeilen stellen hier ein archetypisches Mini-Liebesdrama in erfrorenen Bewegtbildern dar – im ständig abrupten Wechsel zu einer farbchangierenden Mondsichelidylle mit Grillengezirp.
Nach diesem Kneipbad zwischen atmosphärischer Naturwelt und distanzierter Kunstwelt ist man ausreichend präpariert für das Hauptgeschehen, das sich nun in selber Ästhetik vom Proszenium in den Raum öffnet: „Luci mie traditrici“ von Salvatore Sciarrino, 1998 in Schwetzingen uraufgeführt, erzählt klangstark, wortkarg und auf die Essenz reduziert die Geschichte des Komponisten Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa, der im Jahr 1590 seine Frau und ihren Geliebten inflagranti erwischt, brutal ermordet und hernach, in tiefe Depression verfallen, die herrlichste Sakralmusik komponiert. Freyer projiziert seine Interpretation der Geschichte mehrdimensional in den Raum, den leicht schiefe, verspiegelte Schwebeböden in horizontale Ebenen gliedern. Während unten Fürst Malaspina (Otto Katzameier) wie eine Marionette an Händen und Füßen gebunden in sein Schicksal verstrickt sitzt, schlüpft auf der oberen Ebene die männerverschlingende Fürstin (Anna Radziejewska) von einem wollüstigen Nacktgewand ins nächste, um ihren Liebhaber, den Gast (Kai Wessel) zu empfangen. Von einer dritten Ebene baumelt kopfüber der leporellohafte Diener, der alles beobachtet und kolportiert und damit die Zündschnur zum Ehrenmord in Brand steckt.
Begegnen werden sich Fürst und Fürstin nie, auch im zweiten Akt nicht, wenn sie ihre Schuld bekennt, er ihr vergibt und sie ihm Treue schwört. Im Gegenteil: Freyer zementiert das Lippenbekenntnis durch ein weiteres dreistes Stelldichein mit dem liebreizenden Gast. Als wäre das Schicksal aller von vornherein besiegelt, verlässt keiner der vier harlekinesken Akteure seine Position. Selbst in der ultimativen stimmlichen Verschmelzung der Mezzosopranstimme der Fürstin und dem Countertenor des Gastes in der dritten Szene des ersten Aktes, bleiben die Körper mimisch und gestisch unverwandt an Ort und Stelle verwurzelt, als seien sie typologisch standardisierte Repräsentationen von Menschen, die man wie Schachfiguren aufs Feld gesetzt hat. Und so wenig sich diese Figuren verändern, umso mehr wuselt es an Kunstgriffen, die Achim Freyer nicht nur im Szenenbild, sondern auch in der Licht- und Videokonzeption untergebracht hat: mit einer transparenten Gaze als Projektionsfläche legen sich dreidimensionale Bilder über das Geschehen, die zwischen abstrakt und konkret lavieren, letztlich aber nur ablenkender optischer Ballast sind, als gälte es, um jeden Preis eine Vertiefung in das innen- und zwischenmenschliche Geschehen zu unterbinden.
Trotzdem – und das ist die positive Überraschung – destilliert sich an allen Verfremdungsgraden vorbei die Tragik des zur Vernichtung des geliebten Menschen getriebenen Fürsten heraus, wenn vor dem Hintergrund des so gefühlskalt dargestellten Liebesverrats der buffohafte Diener dem Fürsten leichtfertig den Betrug offenbart. Ein evidenter Gefühlsausdruck ist dem Fürsten hier nicht erlaubt, dafür aber krabbeln auf einmal Dutzende Käfer über die transparente Gazefläche, sodass sich einem das Elend des Moments auf körperlich-nervlichem Weg mittleit. Nur leider bleibt dieser Moment, an dem die Stilisierung einen Sinn zu bekommen beginnt, der einzige seiner Art an dem Abend.
Gewiss gibt Freyer mit seiner Commedia dell’arte-Verortung einen stimmigen Hinweis auf die Zeit, in der die Geschichte spielt. Auch die oft unnatürliche Silbenbetonung der wenigen Worte, die Sciarrino mehr in Klangseufzer als in kantable Linien verwandelt, mag man als musikalischen Ankerpunkt für Freyers hochstilisierten, distanzierenden Ansatz identifizieren. Aber Stilisierung – das ist im eklatanten Kontrastspiel dieses Abend schwer zu verkennen – ist eben nicht gleich Stilisierung und hat vor allem unterschiedliche und durchaus maßgeblich Gründe. Denn das Wort zählt in „Luci mie traditrici“ nichts. Das weiß man seit dem Moment, in dem Sciarrino die a capella gesungene Elegie des Renaissancekomponisten Claude Le Jeune zu Ende des Prologs mitten im gesungenen Wort abwürgt, sodass sie sich fortan nur noch wortlos in fortschreitenden instrumentalen Zersetzungsstadien Gehör verschaffen kann, um das innere Drama der Figuren, den Schmerz, die Schuld, das Ausgeliefertsein, klanglich erfahrbar zu machen, bis im letzten Intermezzo der Kulminationspunkt der melodischen Drainage erreicht und der Klang vollständig verkörperlicht ist: bei komaähnlicher Temporeduktion ist nun kaum mehr etwas zu hören, nur noch Vitalfunktionen: der Atem und ein dumpfes Klopfen wie ein flacher, dem Stillstand naher Herzschlag.
Um in diese klanglich hochintime, fragile Welt eintreten zu können, muss sie akustisch präsent sein. Doch genau dies verunmöglicht Freyers Raumgestaltung, die offensichtlich oberste Priorität im Konzept genießt: Die maskierten Musiker des Klangforum Wien (musikalische Leitung Emilio Pomàrico), die – ins Kellerloch hinter die Gazewand verbannt – diese Präsenz durch die akustischen Gegebenheiten natürlich nicht herstellen können, sind so unbalanciert verstärkt, dass nicht nur jede Plastizität der von fein differenzierten Geräuschklängen und Multiphonics getragenen Partitur verloren geht, sondern auch die zerbrechliche Aura dieser explizit leisen Musik zunichte gemacht wird. Ob diese Art der Verzerrung eine integrale Verfremdungsebene von Freyers Konzept ist, stehe dahin, jedenfalls geht damit die Chance, ein Stück atemberaubendster Musik als Theater zu erleben, zugunsten visuellen Overkills verloren.