Foto: Aufmerksamkeit außerhalb des Theaterraums: Adi Hrustemović im Eröffnungsprojekt des Dortmunder Schauspiels © Birgit Hupfeld
Text:Sarah Heppekausen, am 26. September 2020
Es ist, als sollten wir erst mal durchgerüttelt werden mit dieser Lichtshow im Nebel auf der Hinterbühne, als sollten unsere Sinne durcheinandergewirbelt werden, um Zeiten und Raum neu denken zu können. Dann öffnet sich der Eiserne Vorhang und Phönix (der „in der Gleichzeitigkeit aller Zeiten“ lebt) und zwei Stadtplaner*innen berichten, dass wir nun gemeinsam einen Nichtort-Ort schaffen werden. Es ist der Start zu einer Erkundungstour durch die Stadt. Für ihre Eröffnungsinszenierung als Dortmunds neue Schauspielintendantin wählt Julia Wissert eine Theaterform der Begehung und Begegnung, was durchaus programmatisch zu verstehen ist: Wir imaginieren eine utopische Zukunft in der und durch eine konkrete Berührung mit der Stadtgesellschaft. Entsprechend der grammatikalisch sperrige Stücktitel: „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?“
Wissert hat die fünf Autor*innen Luna Ali, Sivan Ben Yishai, Ivana Sajko, Akin Şipal und Karosh Taha beauftragt, sich mit der Geschichte und einer möglichen Zukunft der Stadt zu beschäftigen. An fünf Stationen, hier Portale genannt, werden die überwiegend poetischen, assoziativen, auch mal dokumentarischen Texte in lebensechter Kulisse in Szene gesetzt. In drei Gruppen bewegen sich die insgesamt 75 Zuschauer*innen dorthin. Unsere Gruppe läuft vom Schauspielhaus zunächst in die berüchtigte Dortmunder Nordstadt. Vor uns die Fassade des verlassenen Horror-Hochhauses an der Kielstraße, die oberen Fenster sind voller Graffiti, die unteren mit glänzender Folie abgehängt. Autorin Karosh Taha fügt Fakten („2002. Das Hochhaus wird geschlossen. Versiegelt. Doch leer bleibt es nicht. Das zweite Leben des Hauses beginnt. Schlafen und Leben, Trinken und Feiern. Drogen und Partys“) und Fiktionen („Mitte April 2021. 28 Grad, Sonne. Die Roboter kommen. Abbruchroboter…“) zusammen mit persönlich-präzisen Beschreibungen von Hochhausbewohnerinnen aus ihrem Roman „Krabbenwanderung“. Da brennen sich Bilder, Schicksale und Zustandsbeschreibungen nachhaltig ins Hirn, während wir auf der Tischtennisplatte auf der sonst kargen Grünfläche vor dem Haus sitzen und Anwohner*innen aus den Nachbarhäusern von ihren Balkonen kurz mal zuschauen.
Der Einbruch des Realen gewinnt immer wieder die Oberhand bei derartigen Stadterkundungen. Naturgemäß. „Ey, eine Demo“, ruft jemand aus einem Auto heraus, als wir uns uniformiert mit unseren Welcome-Pack-Jutebeuteln über die Bürgersteige drängen. Die einen frieren, die anderen haben Hunger und holen sich schnell etwas vom Kiosk. Am Hinterausgang des Hauptbahnhofs – nächste Station – genießt ein Betrunkener kurz die Aufmerksamkeit im Scheinwerferlicht. Dann leuchten die Lampen des Baggers auf der Bahnhofsbaustelle deutlich heller als die aufgestellten Bühnenlichter. Ivana Sajkos eigentlich eindringliche Erzählung zweier Geschwister, die auf eine bessere Zukunft an einem neuen Ort hoffen, wird da schnell zum Nebenschauplatz.
Zum Finale kommen alle auf dem Platz der Synagoge vor dem Theater zusammen, um mit Sivan Ben Yishai den gegenwärtigen Moment zu feiern. Und um der Zerstörung der Synagoge durch die Nazis zu gedenken. In schonungslos-detaillierten Sprachbildern gleicht der Abbau der Synagoge bei Yishai einer menschlichen Schlachtung. Ihr Text hätte mehr Aufmerksamkeit verdient, als am Ende der dreistündigen Tour noch übrig ist. Schade ist das. Aber rauszugehen aus der konzentrierten Theaterblase hat eben seinen Preis. Und ein Gewinn ist sicht- und spürbar: Die Begegnung mit dem Draußen ist hier mehr als nur eine Floskel.