Foto: Marie Dziomber und Ensemble des Theaters Heidelberg in "Pirsch" © Susanne Reichardt
Text:Volker Oesterreich, am 29. April 2023
Ein flammendes Inferno verwüstet die Seele. Oder anders ausgedrückt: Die Erinnerung an eine lange zurückliegende Tat hat Höllenqualen in Marinka entfacht. Vor 15 Jahren ist sie bei einem Dorffest missbraucht worden, nun kehrt sie an den Ort des Geschehens zurück. Wieder wird in dem Nest ausgiebig zu harten Techno-Beats gefeiert, aber tanzen will die junge Frau nicht mehr. Getrieben von ihrem Gerechtigkeitssinn, will sie wie eine moderne Kohlhaas-Figur nur Rache.
Ihr Furor ist auf der bildlichen und sprachlichen Ebene symbolisch aufgeladen – nicht nur durch ihre entflammte Psyche, die durch das einfach gestaltete, aber stimmige Bühnenbild der Ausstatterin Eugenie Leis illustriert wird, sondern auch durch eine Hündinnenmeute, die sich gemeinsam mit ihr auf die Pirsch nach dem Täter begibt.
Damit sind Thema und Titel von Ivana Sokolas preisgekröntem Stück „Pirsch“ benannt. Im vergangenen Jahr erhielt sie dafür den mit 10.000 Euro dotierten „Autor:innenpreis“ des Heidelberger Stückemarkts, im Januar 2023 folgte die Uraufführung in Göttingen – und nun hat das Heidelberger Theater die Zweitaufführung zum Auftakt des 40. Stückemarkts als Eigenproduktion in sein Programm aufgenommen.
Zweitaufführungen wie diese sind den Heidelbergern besonders wichtig. Durch sie will man verhindern, dass neue Dramatik nach der Uraufführung in den überquellenden Textspeichern der Bühnenverlage in Vergessenheit gerät. Die Gefahr ist groß, da die Ereigniswalze im schnelllebigen Theateralltag viel zu viele Schreibtalente überrollt.
Bildmächtiger Abend
Jana Vetten verwandelt Ivana Sokolas „Pirsch“ in der kleinen Zwinger-Spielstätte des Heidelberger Theaters in eine knapp 100-minütige Seelenreise mitten hinein in die Traumata einer gedemütigten Frau. Ein Kuss wurde der von Marie Dziomber intensiv gespielten Marinka vor eineinhalb Dekaden abgetrotzt. Was weiter geschah, ist in ihrem Erinnerungs- und Verdrängungsstrudel durcheinander geraten. Vermutlich aus Angst und Scham.
Deshalb nehmen ihr die anderen Dörfler, speziell ihr Bruder Jan (André Kuntze), den Missbrauchsfall nicht ab. Die quirlig wirkende Polizistin Lene (Yana Robin La Baume) ermittelt, aber die Ereignisse von einst werden verharmlost: Jan tut sie als bösen Traum ab. Doch dann gesteht die Polizistin, ebenfalls einen sexuellen Übergriff erlebt zu haben.
Jahrmärkte oder Dorffeste und toxische Exzesse scheinen einen systemischen Zusammenhang zu haben, so die Botschaft des Geschehens, über das eine Schaustellerin mit ihrem Budenzauber gebietet. Antonia Labs verleiht ihr mit flammender Perücke und flammendem Kostüm eine gefährliche Ambiguität, halb ist sie Zerberus, halb Zampano eines Vergnügungsbetriebs, der keine Rücksicht nimmt auf individuelle Ängste und Nöte.
Die vier von einem Darstellerinnen-Quartett verkörperten Jagdhündinnen, mit denen Marinka die Pirsch nach dem Missbrauchstäter aufnimmt, könnte man auch als Nachfahren antiker Erinnyen interpretieren. Das ist naheliegend, da die Tiere zuweilen im Chor wispern, tuscheln, hecheln und skandieren. Mit eng anliegenden Bodys, maskierten Gesichtern und leinenartigen Zöpfen geben die Schauspielerinnen der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg dem Geschehen eine so archaische wie circensische Aura. Das hat Biss, wenn auch in symbolisch überhöhter Art. Ein bildmächtiger Abend zum Auftakt des Jubiläumsfestivals.