Der Roboter tut seine Arbeit und der Autor sieht zu.

Vier Personen finden einen Autor

Arnon Grünberg: The Future of Sex

Theater:Ruhrtriennale, PACT Zollverein Essen, Premiere:01.09.2016 (DE)Regie:Wunderbaum, Johan Simons

Der Titel verrät es deutlich. „The Future of Sex“ ist ein Theaterabend über ein Thema, das (zumindest nahezu) jeden angeht, viel mehr noch als Projekte über Flüchtlinge oder andere aktuelle Themen. Die in Rotterdam ansässige Gruppe Wunderbaum verwendet diese Tatsache quasi als Brandbeschleuniger für ihre eigentümlich fröhliche Dystopie, die gleichzeitig als sachliche, gerne thesenhaft zugespitzte Analyse der total individualisierten, narzisstischen Gesellschaft Mitteleuropas daherkommt.

Ein Fragenkatalog („Was ist ein guter Mensch?“, „Ist ein großer Schwanz besser oder eine enge Muschi?“, „Hast du saubere Fingernägel?“) steckt den thematischen Rahmen ab, lädt ihn mit einer ethischen Dimension auf und unterminiert diese gleichzeitig. Der Befragte bleibt allein in der riesigen schwarzen Taucherglocke zurück, die den ansonsten leeren Raum in PACT Zollverein dominiert und schaut aus dem kreisrunden Bullauge. Zweier- und Dreierszenen reihen sich aneinander. Eine Frau und ihr Sexroboter führen eine glückliche Beziehung. Ein Paar hat keinen Sex mehr, fühlt sich aber zusammengehörig. Ein anderes Paar ist aus beruflichen Gründen räumlich getrennt und hat virtuellen, am Computer nachbearbeiteten Sex. Ein Mann besucht eine Agentur, in der er Baby sein darf – und zusammen mit seiner „Mutter“ den Stuhlgang aus seiner Windel zu sich nehmen. Ein anderer Mann hat einen Sexroboter, der elf Jahre alt ist und bleiben wird und den er zu lieben behauptet. Auch ein Flüchtling kommt vor. Er soll eine Beziehung retten. Die Szenen werden unaufgeregt im Einheitstempo wie durchgestellt exekutiert, brillant und momentweise ermüdend. Man sieht ein wenig sprachlos zu, kann nicht von sich weisen, dass es derartige gesellschaftliche Tendenzen gibt, ist aber kaum angeekelt. Auf Provokation ist „The Future of Sex“ nicht aus, eher auf Bewusstmachung. Zwischendurch gibt es Musik von einem zwölfköpfigen a capella Chor und dem Cellisten Simon Lenski, der seinem elektronisch abgenommenen Instrument erstaunliche Töne entlockt, die aber akustische Dekoration bleiben.

Spannend ist die lapidare Offenheit dieses Theaterabends. Sie stellt Fragen und verlangt zwingend Haltung vom Zuschauer, versetzt ihn, zumindest für zwei Stunden, in eine du-musst-dein-Leben-ändern-oder-doch-nicht-?-Endlosschleife. Genauso spannend, vielleicht sogar noch spannender ist die klug eingezogene zweite Ebene. Der Mann in der Taucherglocke, der am Anfang auf Deutsch – auf der Bühne wird in der Regel Niederländisch gesprochen – die Fragen beantwortet hat, und den die Figuren immer wieder mal ins Vertrauen ziehen, ist Arnon Grünberg, ein in den Niederlanden sehr renommierter Autor, der auf Basis von Improvisationen der Schauspieler, die er wiederum selber angestoßen hat, den Text von „The Future of Sex“ verfasst hat. Er scheint über jede seiner Antworten nachzudenken, zu versuchen, sich klar, differenziert und empathisch auszudrücken. Er sieht dem Geschehen mit Empathie zu und zieht seine Schlüsse. Sex, wie wir ihn kennen, wird verschwinden in Mitteleuropa, sagt er. Und die Figuren sehen zu ihm auf. Das Individuum, das für seine eigenen Bedürfnisse lebt und daher keine, wenige oder nur schwache soziale Bindungen hat, sehnt sich nach einer Instanz, nach jemandem, der weiß, versteht und nicht übel nimmt. Diese Rolle spielt ausgerechnet der Autor, fast eine Utopie in der Dystopie, scharf konturiert, nicht sentimental. Das gab es natürlich schon mal, sogar vor langer Zeit, aber hier ist es theatralisch schon fast absurd stimmig.

Die Bühne wird in rotes Licht getaucht. Der Chor baut sich vor dem Autor im Bullauge auf und scheint etwas zu erwarten. Anweisung. Maßregelung. Lob. Erlösung. Orientierung. Ein starkes Schlussbild. Leider kommt noch etwas. Die vier Schauspieler betreten das Bullauge und sprechen eine Art Mini-Oratorium mit dem wiederkehrenden Ausdruck „Sletten van de Toekomst“, Nutten der Zukunft, Sklaven der eigenen Bedürfnisse, begierden und Zukunftsängste, ein selbstgewisser, ironisch zerbrochener, fast autoaggressiver und dabei arg geschwätziger Text. Ein spannender, ungewöhnlicher Theaterabend endet mit einer verpassten Chance.