Foto: Ein Strand aus Neonröhren? "Einstein on the Beach" in Genf © GTG Carole Parodi
Text:Georg Rudiger, am 12. September 2019
Menschen fliegen durch die Luft, ein Pferd zieht langsam seine Kreise. Die endlosen Dauerschleifen der Musik heben das Zeitgefühl auf, die formidablen Tänzer und Schauspieler der Compagnia Finzi Pasca die Schwerkraft. Nach knapp vier Stunden Sitzen kann man im Genfer Opernhaus zwar seine Beine kaum mehr bewegen, aber man möchte nicht eine Minute dieses Theaterzaubers missen.
Mit großen Worten hat der neue Intendant Aviel Cahn seinen Dienstantritt am Grand Théâtre de Genève angekündigt. Der Zürcher, der in den letzten zehn Jahren die Flämische Oper in Antwerpen/Gent geleitet hatte, will das Haus zum ersten Opernhaus der Schweiz machen, möchte Antworten auf Fragen von heute finden, neue Publikumsschichten gewinnen und ungewöhnliche Zugänge zu den Opernstoffen schaffen. Die Eröffnung der Saison mit Philip Glass‘ 1976 entstandener, vieraktiger Oper, die der Komponist in enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur Robert Wilson konzipierte, ist ein echtes Statement: Eine Oper ohne Handlung, ohne Pause und (bis auf eine einzige Arie) ohne Solisten. Die gesamte Musik findet im Orchestergraben statt. Die neun Szenen und fünf sogenannten Knee Plays, instrumentale Zwischenstücke, sind nur durch kurze Atempausen getrennt. Dann zieht die Musik wieder neue Kreise in meist zwei- oder viertaktigen Loops und einfachen Tonwechseln. Es ist gestattet, jederzeit das Opernhaus während der Vorstellung zu verlassen und wieder zurückzukommen, lautet die Information für die Premierengäste bei Betreten des Zuschauersaals. Dass am Ende dann doch viele frei gewordene Plätze im Parkett leer bleiben, ist als Reibungsverlust zu verbuchen, den solch ein ungewöhnliches Werk mit sich bringt.
Man muss sich einlassen auf die unzähligen Wiederholungen, auf die monotonen Dauerschleifen, auf den begrenzten Tonvorrat und die Einheitsdynamik. Dann gleicht jede Modulation einer Sensation. Und wenn nach vielen Minuten Repetition ein Akkord einmal neu zerlegt wird oder sich die rhythmischen Schwerpunkte verschieben, dann ist das ein echter Wachmacher. Dirigent Titus Engel setzt mit Studenten der Genfer Musikhochschule die Partitur nicht nur enorm präzise um, sondern gestaltet immer auch Phrasierungen. Da wirkt nichts maschinell. Selbst in den Tonleiterketten sind Zieltöne eingebaut, die auch helfen, die Chor- und Instrumentalstimmen perfekt übereinanderlappen zu lassen. Alles, was aus dem Orchestergraben tönt, hat Leichtigkeit und Raffinesse. Auch die fantasievolle, bildstarke Inszenierung von Daniele Finzi Pasca hat diese spielerische, verspielte Ebene. Eigentlich betreut der in Lugano beheimatete Regisseur mit seiner virtuosen Kompanie große Shows bei Olympischen Spielen oder dem Cirque du Soleil. Zu dieser Oper passt sein Theaterzauber perfekt, weil er mit einfachen Mitteln poetische Bilder schafft und dabei immer wieder überrascht mit ungewöhnlichen Brechungen oder Fortspinnungen. Vor allem aber ist seine Inszenierung zutiefst musikalisch und arbeitet genauso mit Wiederholung und Variation, wie es Philip Glass tut. In Albert Einsteins Arbeitszimmer treten immer die gleiche Leute auf (Bühne: Hugo Gargiulo) – Bücher werden gestapelt und umgeworfen, Fahrradfelgen drehen sich. Aber dann wächst das Bücherregal unmerklich immer höher in den Theaterhimmel und ein Papierflieger gewinnt ein Eigenleben und macht ferngesteuert ein paar Loopings. Auf ganz spielerische Weise hebt Daniele Finzi Pasca die Naturgesetze auf. Bei der Strandszene (Rolando Tarquini als Albert Einstein) fliegt, gehalten von zwei Stahlseilen, eine Meerjungfrau durch die Lüfte (Kostüme: Giovanna Buzzi). Beim poetischen Schattentheater werden Figuren riesig groß und dann wieder klein. Und wenn sich der Vorhang hebt und man das weiße Pferd in ganzer Schönheit sieht, wie es in einer ganz intimen Szene behutsam gewaschen und gebürstet wird, dann ereignet sich der nächste große Theatermoment.