Foto: Lamis Ammar (Wahida), Johannes Merz (Eitan Zimmermann) © Thorsten Wulff
Text:Jens Fischer, am 17. April 2021
Es geht um Israel und Palästina, es geht um Identität. Und damit sind wir mitten im Schlamassel, dass das Politische vom Privaten nicht zu trennen ist im ewigen Sperrfeuer des Nahost-Konflikts. Da dieser Krieg wie jeder andere auch eine Bankrotterklärung der Menschlichkeit offenbart, macht es durchaus Sinn, wenn Pit Holzwarths Inszenierung von Wajdi Mouawads Bühnenhit „Vögel“ erstmal die allgemeine Erklärung der Menschenrechte vielsprachig verkünden lässt. Unangenehm nur die unterlegte pathetische Musik. Da fortan enttarnte Lebenslügen und das trostlose Verharren im permanenten Ausnahmezustand jüdisch-arabischen Lebens miteinander verknüpft werden, macht es ebenfalls Sinn, wenn zum trostlosen Finale die Schauspieler aus ihren Rollen treten und sich qua Profession als „Gefangene der Hoffnung, des Lebens“ bezeichnen. Denn die Hoffnungsschimmermöglichkeiten des arg konstruiert wirkenden Stücks, von denen andere Regisseure die eine oder andere warmherzig erblühen ließen, haben am Theater Lübeck keine Chance – die Liebe des jüdischen Romeos Eitan (Johannes Merz) und seiner arabischen Julia Wahida (Lamis Ammar) bleibt blutleer idealistische Behauptung, das Öffentlichmachen verdrängter Familientraumata macht niemanden frei, sondern pulverisiert nur Vorstellungen von Persönlichkeit und zerstört Beziehungen – zudem kommt das Bekenntnis zur Kultur der Vorfahren als ungut radikalisierende Erleuchtung daher. So wirken Friedens- und Verständnissehnsucht des Autors sowie die Aussöhnungsbotschaft des Textes umso verzweifelter. Aber auch umso drängender.
Überraschende inhaltliche Setzungen oder ästhetisch herausfordernde Ansätze scheint der so schwerwiegende wie rührselige Stoff zu verbieten. Da er in den vergangenen zweieinhalb Jahren bereits an vielen deutschsprachigen Theatern inszeniert wurde und Lübeck damit jetzt sein Streaming-Programm startet, was an deren Bühnen schon Alltag ist, wollte Holzwarth wohl nicht einfach nur noch eine abgefilmte Aufführung ins Netz stellen, sondern die dramatische Überzeugungskraft durch eine Split-Screen-Inszenierung steigern (Stream-Bildregie/Schnitt: Thomas Lippick). Womit zumindest keine Innovationspunkte zu sammeln sind, denn Stefan Bachmann hat das Konzept kürzlich schon in Köln realisiert – siehe hier.
Wenn auf verschiedenen Sektoren des Filmbildes separate Einzelbilder flimmern, dann ist das ein ästhetisches Mittel zur Repräsentation der Gleichzeitigkeit interagierender Handlungsstränge, die beim Betrachten zusammengedacht werden. In Lübeck segmentiert schon die Bühne (Ausstattung: Werner Brenner) das Geschehen mit fünf spartanisch gezimmerten Fluren, in denen coronapolitisch vorschriftsmäßig isoliert voneinander agiert werden kann, während die Bilder davon ganz nah nebeneinanderstehen. Versucht wird, zumindest einige wenige der ständig wechselnden Perspektiven, die ein Besucher im Parkett einnähme, im Video-Stream zu realisieren.
Allerdings sind wir inzwischen im Homeoffice durch Videokonferenzen schon überfüttert mit Menschen, die zu einem von vielen Quadraten auf einem Bildschirm degradiert wurden. Zu Pandemiebeginn war das vielleicht noch ein Zeichen des Zusammenhalts. Mittlerweile wird vielfach nur noch das Trennende in diesen kleinformatigen Kästchen wahrgenommen, nicht mehr das Gemeinsame. Was nun aber gut zur dieser „Vögel“-Inszenierung passt. Denn sie zeigt: Das Stückpersonal ist schier unnahbar weit voneinander getrennt. Es lebt wie jedermann in Identitätssprechblasen aus Überzeugungen, Werten, Wissen, Herkunft, Rollen, Geschlecht, sexueller Orientierung et cetera – und erkennt erst zu spät, dass dies keine festgeschriebenen Wahrheiten sind. Ob die Eltern mittags gen Mekka beten würden oder den Holocaust überlebt hätten, gehe spurenlos an der DNA vorüber, erklärt der Genetiker Eitan. Den Genen sei unser Schicksal egal. Wir müssten es selbst definieren und nicht nur eigene Wesensmerkmale aus einer Gruppenidentität herauskopieren.
Gespielt wird eine viersprachige Fassung, was die Diversität der Wirklichkeit authentisch verdeutlichen und als Exempel verwirrter Identitätssuche funktionieren soll. Wird Fremdheit und Nähe doch durch kaum etwas anderes mehr geprägt als durch die Sprache. Damit jeder alles auch auf Deutsch versteht, sind die arabischen, hebräischen und englischen Passagen übertitelt auf der oberen Bildkachel. Dort werden auch mal die Totale der ganzen Bühnenbreite eingeblendet oder Illustrationen des Spielorts, beispielsweise New York im Schnee. Darunter ist der Bildschirm weiter aufgeteilt, zu sehen sind Nahaufnahmen sprechender Gesichter, von links oder rechts und frontal aufgenommen. Zur weiteren Orientierung kommen Sequenzen, in denen die Schauspieler in ihrer Bühnenecke zu sehen sind, weil sie sich in der Pandemie gar nicht nahekommen dürfen. Dabei hilft nun Split Screen.
Die Technik funktioniert beeindruckend sinnfällig, wenn Etgar und Leah leidenschaftlich diskutieren, ob sie ihrem als leibliches jüdisches Kind aufgezogenen Sohn David die Wahrheit seiner Geburt als muslimisches Waisenkind aufzeigen sollen. Da rennt die aufklärungswillige Adoptivmutter links im Bild, rechts stoppt der widerwillige Adoptivvater immer wieder sein Gehen ab, der von den Folgen der Entscheidung betroffene Enkel humpelt in der Bildmitte an einer Krücke. Allerdings schaffen es nicht alle Darstellenden, differenziert sowie mit überzeugender Intensität in den leeren Theatersaal hineinzuspielen – und verkümmern manchmal zu monologisierenden Thesenträgern.
Die Regie ist zwar in der aktuellen Sexismusdebatte up to date, lässt die Hauptdarstellerin nur die Regieanweisungen sprechen und nicht handeln, als sie sich ausziehen soll, weiß ansonsten aber kaum, den redseligen Text künstlerisch zu bändigen. Wenn Wahida mit sich als weiße US-Bildungsbürgerin hadert, sitzt sie da wie Schneewittchen bei der Selbstbespiegelung – und kommt mit einem Palästinensertuch auf die Bühne, nachdem sie sich als people of colour und Araberin definiert hat. Um Verzweiflung zu spielen, muss David mehrmals minutenlang die Hände überm gesenkten Kopf verschränken und ansonsten eine jüdische Fanatiker-Witzfigur geben. So wird seiner Selbstauslöschung die Fallhöhe, die Wucht der zitierten „Ödipus“-Tragödie genommen. Nur der Fatalismus bleibt. David stirbt. Was die Regie mit dem schlichten Hoffnungsausruf des Ensembles kommentiert. Insgesamt ist das alles handwerklich zumindest solide gemacht, aber leider eine eher uninspirierte Produktion konventionellen Erzähltheaters.