"Rusalka" in Lübeck, hier mit Tobias Hächler (als der Prinz) und María Fernanda Castillo (als Rusalka).

Verweigerter Märchenzauber

Antonín Dvořák: Rusalka

Theater:Theater Lübeck, Premiere:15.11.2019Regie:Otto KatzameierMusikalische Leitung:Stefan Vladar/Andreas Wolf

Irgendjemand hat den Stöpsel aus dem Märchentümpel gezogen. Jetzt sitzt die halbnackte Wahrheit verstört auf dem Grund ihres vermurksten Liebeslebens und sucht nach dem eigenen Ich: Antonin Dvořáks Titelfigur Rusalka ist in die Mühle ihres eigenen Psychodramas geraten, wo Väterchen Wassermann (Rúni Brattaberg) mit dröhnendem Bassbariton und latentem Hang zum Missbrauch die Schwesternschaft (hinreißendes Terzettieren: Claire Austin, Angela Shin, Milena Juhl) zum Jammern und Aufbegehren treibt. War ja auch zu dumm, dass sich die naive Reine ausgerechnet Rat bei der Fürstin Ježibaba, ihrer zwiespältigen Nebenbuhlerin, holte.

Die freudsche Versuchsanordnung, die der Sänger und Regisseur Otto Katzameier da anstrengt, sieht in seiner eigenen Ausstattung mit nur selten sinnlich ausgeleuchteten Spanplatten und verspannten Stoffprospekten ein bisschen nach Schultheater aus. Auch die Art und Weise, wie hier Mittel des Theaters à la Stroboskop-Gewitter angewendet oder groteske und kafkaeske Elemente der tschechischen Theatertradition zitiert werden, wirkt bisweilen wie vorschnell aus der Mottenkiste gezogen.

Aber: Die choreographische Personenregie entwickelt interaktive Spannung. Wie da um körperliche und seelische Annäherung und Abstoßung gerungen wird, sich Doppelgängerinnen Rusalkas zum sprachlos stummen Munch’schen Schrei formieren, wenn das Herz den untreuen Geliebten für tot erklärt, verfehlt seine Wirkung nicht. Die Zustimmung im Premierenpublikum ist groß, Gegenwehr bleibt trotz des weitgehend verweigerten Märchenzaubers aus.

Das liegt maßgeblich am musikalischen Gewicht der Neuproduktion. Alle Ohren richteten sich auf das Dirigat des neuen, aus Wien stammenden Generalmusikdirektors Stefan Vladar, der als Starpianist und Dirigent eigentlich keine opernnahe Kapellmeister-Karriere für die Aufgabe vorzuweisen hat. Doch der Kontakt zwischen Bühne und Graben funktioniert fast immer gut und die Lübecker Philharmoniker klingen profiliert und farbstark. Vladar macht mit drängend dramatischem Puls und angeschärften Harmoniespannungen deutlich, dass die geniale Partitur vom reifen Dvořák stammt und mit ihrer Uraufführung von 1901 schon ein Kind einer neuen Zeit ist. Da kommen einem Mahlers Orchesterlieder, Schönbergs „Verklärte Nacht“ und die frühen Opern von Zemlinsky und Schreker in den Sinn. Wer romantisches Gesäusel und betörende Düfte bevorzugt, muss woanders einkehren.

Mit der Balance bekommt Vladar schon deshalb kein Problem, weil die Hauptpartien stimmlich eher dramatisch als lyrisch besetzt sind. Um die Rusalka von María Fernanda Castillo muss man sich eigentlich keine Sorgen machen. Sie ist in ihrer Rückschau auf die Wellenberge des Lebens eher von Wut gezeichnet. Ihr strahlkräftiger Sopran hat nichts elfenhaft Verhuschtes. Deshalb hat man das „Lied an den Mond“ auch schon sehnsüchtiger und schöner schattiert gehört. Aber für jegliche Auseinandersetzung ist sie bestens gerüstet.

Auch wenn hier und da die Anstrengung seine Höhe mattiert, ist der Schweizer Tenor Tobias Hächler als Prinz ein stattlicher Sparringspartner für die temperamentvolle Mexikanerin. In fiesem Korsett, mit verzerrter Joker-Visage und expressiv rauchig überrissenen Alt-Tönen ätzt die Italienerin Romina Boscolo das psychologische Hexenwerk der Ježibaba ins Bild. Für ihr Alter ego im Glitzerfummel auf High Heels, die verführerische(re) fremde Fürstin, findet Marlene Lichtenberg die passend geschönteren Südtiroler Mezzosopran-Schwingungen. Und wenn Steffen Kubach als markanter Heger und Milena Juhl als knabenhaft leuchtender und MeToo-gefährdeter Küchenjunge gekonnt mithalten, wird deutlich, dass am finanziell endlich durch erweiterte Zuwendungen von Bund, Land und Stadt ein wenig entlasteten Lübecker Theater mit dem Sängerensemble geschickt umgegangen wird.