Foto: Das gemäßigt glückliche Ensemble in Helena Waldmanns "GlückStück". © Sebastian Bolesch
Text:Frank Weigand, am 16. Dezember 2011
Selbstbewusster kann ein Tanzabend kaum beginnen: Zu den monumentalen Klängen von Richard Strauss‘ Nietzsche-Vertonung “Also sprach Zarathustra” steigt André Soares langsam von einem Podest hinab und bleibt in der Mitte der Bühne stehen. Ein extatisches Lächeln verzerrt sein Gesicht. Automatenhaft reckt er die Arme in die Höhe.
Nach diesem halb komödiantischen, halb unheimlichen Anfangsbild, das auch ohne weiteres in ein Meg Stuart-Stück gepasst hätte, bewegt sich der Abend jedoch in eine vollkommen andere Richtung. Swing-Klassiker ertönen (manchmal elektronisch verfremdet, manchmal im Original), und vier Anzugträger geben sich einer Feier der Bewegung hin, wie man sie im zeitgenössischen Tanz nurmehr selten zu sehen bekommt. Soares und seine Mitstreiter Tobias M. Draeger, Moo Kim und Brit Rodemund schleudern Arme und Beine von sich, verfallen in synchrone Gruppenchoreografien, lösen sich daraus für Soli à la Fred Astaire, und scheinen dabei vor allem sehr viel Spaß zu haben.
Immer wieder wird das lustige Treiben jedoch durch Texteinblendungen auf der Bühnenrückwand kommentiert bzw. kontrastiert. Sätze wie “Das Glück kommt in 10 Minuten.”, “Der Tod tritt in 10 Minuten ein.” und “Die Wut kommt in 10 Minuten.” machen klar, dass es sich hier keineswegs um Tanz als Selbstzweck handelt. Nein, “GlückStück”, die neueste Produktion der Berliner Choreografin und Regisseurin Helena Waldmann, versteht sich als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Phänomen “Glück”, das für die Künstlerin laut Programmheft eben auch sehr viel mit Würde und der Freiheit im Angesicht der eigenen Sterblichkeit zu tun hat. Der Subtext wird also von Friedrich Nietzsche und Albert Camus geliefert, die beide die Momente der individuellen Grenzüberschreitung als existenziell notwendig für die menschliche Existenz halten.
Und leider ist die didaktische Absicht der Inszenierung, durch Tanz etwas über die condition humaine zu erzählen, allzu penetrant spürbar. Zwar sieht man die verschwitzten Hemden der Akteure, die sich buchstäblich die Seele aus dem Leid tanzen und zu alten Rock ’n Roll-Klassikern synchron die Lippen bewegen, zwar hört man sie knurren und irr lachen – doch überträgt sich nichts von diesem scheinbaren Furor auf das Publikum.
Die These, an diesem Abend quasi live an individuellen Glücksmomenten teilhaben zu können, wirkt schal und ziemlich abgedroschen. Zwar wird das Geschehen durch das zirzensische Bühnenbild von Jochen Sauer (eine Art rundes Mini-Festzelt voller Lämpchen und Goldfäden) eindeutig als Theaterereignis ausgewiesen, in dem die Kunst sich anschickt, etwas über des Leben mitzuteilen – doch entsteht durch das Flittersetting unfreiwillig eher der Eindruck einer im Glühweinrausch entgleisenden Betriebsweihnachtsfeier.
Natürlich weiß die Regisseurin, welche Referenzen sie einsetzt – vom manischen Schütteln des Körpers (auch hier wieder eine Anlehnung an die ungleich radikalere Kollegin Meg Stuart) bis hin zur selbstvergessenen Extase des Körpers zu den Klängen von Elvis Presley’s “A little less conversation” –, doch stellt sich statt dionysischer Entrückung bei Publikum bestenfalls wohlwollende Müdigkeit angesichts dieser braven Nummernrevue ein.
Schade ist, dass die Choreografin aus dem Potenzial ihrer großartigen Tänzer dramaturgisch keine Funken schlägt: Der verschlagene André Soares, der humorvolle Sonny-Boy Tobias M. Draeger, der atemberaubend gelenkige Moo Kim – und allen voran die charismatische Brit Rodemund – holen buchstäblich das Letzte aus sich heraus. Doch leider versteht Waldmanns unglückliches “GlückStück” mit diesen personellen Leistungen nur wenig anzufangen. Kein Glücksfall für den zeitgenössischen Tanz.