Foto: Der Wahrheit bloß nicht ins Auge schauen: Kristina Papst und Matthias Hinz als Eltern Jacks. © Nilz Böhme
Text:Ute Grundmann, am 3. November 2019
Hat Jack oder hat er nicht? Was er getan haben soll, dafür findet seine Mutter erst fast am Ende des Dramas das angemessene, für sie fürchterliche Wort: „vergewaltigt“ – die Exfreundin. Das soll ein Video zeigen, die titelgebenden vier Minuten und 12 Sekunden lang, das natürlich im Internet gelandet ist. Doch was hier wie ein Krimi im digitalen Zeitalter erscheint, greift viel tiefer und an ganz anderer Stelle. Das beginnt schon damit, dass der beschuldigte Jack gar nicht auftaucht, auch nicht in der bedrückend-spannenden Inszenierung von Jochen Gehle am Theater der Altmark in Stendal.
Denn die kleine Bühne im Rangfoyer wird total beherrscht von Jacks Eltern, Di (Kristina Papst) und David (Matthias Hinz). Sie haben Jacks blutbeflecktes Hemd gefunden, natürlich Nasenbluten; schnell sind sie bei den fiesen Mitschülern, die ihrem tollen Sohn nur Böses wollen. Adrett gekleidet und frisiert, sind sie sicher, dass Jack „nichts gemacht hat“, das kann ja auch gar nicht sein, wo sie doch so viel in ihn investiert haben.
Und da sind Regisseur Jochen Gehle und seine beiden starken Hauptdarsteller ganz schnell auf dem Punkt: Der Sohn muss die Prüfungen schaffen, Karriere machen, gar ein zweiter Picasso werden. Denn auf nichts anderes können sich die Eltern noch einigen. Mal plappert Di, dann spuckt David verächtlich Worte aus, da ist jede Menge Spannung, Reibung und Heuchelei im Spiel. Sie vertuschen, verheimlichen, reden über die Exfreundin wie ein mieser Verteidiger in einem Vergewaltigungsprozess, trauen sich nicht, mit dem eigenen Sohn zu sprechen, er könnte ja die – unpassende, weil karrierehemmende – Wahrheit sagen.
Das ist nun allerdings etwas anderes als ein „erschreckend komisches Drama über das digitale Zeitalter“, wie The Guardian über James Fritz‚ Stück schrieb. Natürlich geht es um ein Vergewaltigungsvideo, von allen im Netz begafft. Und wichtiger als die Tat scheint zu sein, wer sie hochgeladen hat. Darum dreht sich zwar einiges, Mutter Di versucht verzweifelt, auch dafür einen anderen Schuldigen als ihren Sohn zu finden. Die Inszenierung versucht das auch bildhaft zu machen: Auf einer großen Leinwand werden die Akteure etwas wacklig abgefilmt, vergrößert und verfremdet (Video: Max Kupfer). „Kameramann“ ist der Schauspieler Daniel Schmidt, der später in die Rolle von Jacks Kumpel Nick schlüpft, der verzweifelt in Cara, die Exfreundin, verliebt ist. Doch auch die interessiert Autor James Fritz nicht so richtig, ihr bleiben einige episodenhafte Auftritte, die Alice Katharina Schmidt beeindruckend zwischen Trotz, Abwehr der Opferrolle, Demütigung und Coolness gestaltet. Auch einen Porno-Blog dieser Cara, der in der Vergewaltigung geendet haben soll, spielt sie souverän.
Doch der Mittelpunkt des hundertminütigen Abends bleiben die Eltern. Wie sie krampfhaft am Bilderalbum aus Jacks Kindheit festhalten, die Wahrheit scheuen und Ausflüchte suchen, lieber an ihre eigenen erotischen Fotos aus dem weiland Brighton-Urlaub als an das Video des Sohnes denken. Dazwischen lässt Jochen Gehle immer wieder rockige, melancholische Songs einschneiden, einmal auch zartes Klavierspiel. Doch er bleibt hartnäckig bei diesem Elternpaar, das sich nichts mehr zu sagen hat, nur noch die gemeinsame Marschrichtung formuliert: „Die lügt, unser Sohn ist toll.“ Das geht hin und her zwischen Taktik, Verzweiflung und einem sehr zweifelhaften (Frauen-)Bild von Cara, die nur schuldig sein kann. Der bietet die Mutter schließlich an, ihr, Caras Vater und Bruder den eigenen Sohn zu überlassen, für das, was nötig ist. 20 Minuten lang für „4 Min 12 Sek“. Doch die entgegnet: Gerechtigkeit heiße für sie doch nur, nicht mehr nachzudenken. Starkes Ende eines starken Abends.