Foto: Ensembleszene © Bärbl Hohmann
Text:Georg Rudiger, am 28. Mai 2016
In Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ scheitert der Protagonist Bruscon noch daran, das Ende seiner Komödie in der totalen Finsternis spielen zu lassen. Der Feuerwehrhauptmann von Utzbach besteht nämlich darauf, dass die Notbeleuchtung angeschaltet bleibt. Bei der Uraufführung von Georg Friedrich Haas‘ Oper „Koma“ nach einem Text von Händel Klaus im Rokokotheater des Schwetzinger Schlosses hingegen herrscht über weite Strecken völlige Dunkelheit. Selbst die Pultlampen sind ausgeschaltet. Opernchef Georges Delnon, der sich mit dieser Produktion von den Schwetzinger SWR Festspielen verabschiedet, kündigt das ungewöhnliche Setting noch vor der Vorstellung an und verweist zur Beruhigung des Premierenpublikums darauf hin, dass an allen Ausgängen Mitarbeiter postiert sind. Dann beginnt der knapp zweistündige, ohne Pause gespielte Abend, der zum echten Hörabenteuer wird. Es ist die dritte gemeinsame Oper der beiden österreichischen Theatermacher in Schwetzingen. Schon „Bluthaus“ (2011), das sich mit sexuellem Missbrauch beschäftigte und „Thomas“ (2013), einer Geschichte über das Sterben, berührten Grenzbereiche des menschlichen Daseins. „Koma“ erzählt von der Wachkomapatientin Michaela (hochexpressiv: Ruth Weber), die nach einem Badeunfall (oder Suizidversuch) im Krankenbett liegt. Ihr Mann Michael (Ekkehard Abele), ihre Schwester Jasmin (mit kristallinem, präzisem Sopran: Lini Gong) und ihr Schwager (wandelbar: Daniel Gloger, der im Falsett auch die Mutter singt) sind da – und doch für Michaela so weit weg. Das nüchterne Klinikpersonal wird von fünf Schauspielern verkörpert.
Neben der Finsternis, die rund zwei Drittel der Oper ausmacht, existieren mit „Als Schattenriss“ und „Im Tageslicht“ noch zwei weitere Helligkeitsstufen (Licht: Dieter Göckel), die auch als Bewusstseinsebenen zu verstehen sind. Hier rückt der Klinikalltag ein wenig näher, wenn Michaelas Krankenbett in einer Projektion auf dem Gazevorhang zu sehen ist (Bühne: Bärbl Hohmann) und das Pflegepersonal in den weißen Schutzanzügen Sterilität verbreitet (Kostüme: Andrea Fisser). Hier erzählen die Angehörigen Geschichten aus Michaelas Leben. Belastete Erinnerungen an die Kindheit, an eine getötete Katze, an den Umzug mit der Familie und die glücklose Zeit als Lehrerin. Dann ist es wieder dunkel – und Michaela taucht ab in ihre eigene Welt, für die Haas berührende, sinnliche Musik erfunden hat. Der Komponist kombiniert Tonalität mit Vierteltönigkeit, Vertrautes mit Fremdem. Haas lässt erweiterte Mollakkorde wegsacken und zieht dem Hörer den Boden unter den Füßen weg. Die vielen Wiederholungen, die den Text von Händel Klaus prägen, finden sich in der Musik wieder, die wie ein steter Bewusstseinsstrom fließt – ohne Pause, mit weichen, unmerklichen Übergängen, einem steten An-und Abschwellen und einem unheimlichen Grummeln im Bass. Auch das teilweise vierteltönig gestimmte Klavier hat Repetitionsmuster und Akkordschichtungen zu spielen. Die vielen Glissandi finden sich auch in den Singstimmen wieder. Haas lässt Motive näher kommen und wieder verschwinden. Anderes bleibt vage – wie hinter einer Nebelschicht. So könnte man ein Koma erleben. Der Patientin Michaela gibt der Komponist eine Stimme, wenn Ruth Weber aus dem Off ihre weit ausschwingenden Kantilenen ins Dunkle schickt. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (ergänzt von Akkordeon und Celesta) unter der Leitung von Jonathan Stockhammer taucht tief ein in diese besondere Klanglichkeit. Bemerkenswert, wie selbstverständlich die musikalische Kommunikation auch im Dunkeln funktioniert. Großartig, welche klangliche Qualität und Homogenität die kleine Besetzung entwickelt. Auch die wenigen, von den Posaunen und Kontrabässen geerdeten Klangausbrüche haben Spannung und Maß.
Trotz aller Faszination hat der von Regisseur Karsten Wiegand subtil inszenierte Abend Längen. Das liegt vor allem am kleinteiligen Libretto von Händel Klaus. Die vielen Wiederholungen ermüden; die Aufteilung der Worte auf verschiedene Sprecher lässt keine genaueren Charakterisierungen zu und verunklart die Textverständlichkeit. Überhaupt erfährt man von den Angehörigen nicht, was Michaelas Koma mit ihnen macht. Die Beziehungen untereinander kann man nur erahnen. Das Klinikpersonal ist Karikatur. Auch musikalisch dreht sich manches im Kreis und wird auf Dauer vorhersehbar. Deshalb hätten ein paar Striche der Oper sicherlich gut getan. Das Ende gelingt Haas eindrücklich. Die Sänger haben sich auf dem ersten Rang postiert. Und erweitern das suggestive Klangbild in den Raum. „Müde, bist du. Schließ die Augen, um zu schlafen. Fast bist Du versunken“, lauten die letzten Worte, ehe Michaela mit ihrem mehrfach geflüsterten Namen in die Stille geleitet wird.