Foto: Das Ensemble agiert in einer beeindruckenden Raumsituation von Bühnenbildnerin Jil Bertermann © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 2. Februar 2020
„Das Leben hat mich verzehrt.“ So pointiert der 28-jährige Jakob Lenz sein aktuelles Lebensgefühl. Er könne nicht mehr. In der Darstellung Claudio Otellis am Theater Bremen kreiselt der Sturm-und-Drang-Dichter um sich selbst, ruhelos im Hass auf seine schlaflosen Nächte. Aber noch kann er seiner Weltabgewandtheit auch ein Schmunzeln abgewinnen und mit den Intonationsmöglichkeiten des Librettos seiner Zerrüttung spielen, das auf Büchners „Lenz“-Novelle basiert, auch Notate von Zeitgenossen und Lenz-Gedichte verarbeitet.
Ganz hibbeliges Kind im Matrosenanzug ist der Protagonist zu Beginn der nach ihm benannten Kammeroper von Wolfgang Rihm und fühlt sich wohl unter gleich gewandeten Kinderchoristen als kleinen Alter Egos. Denn dahin will er zurück, hinter sein Wissen um die Welt, seine Erfahrungen und seine vom Lärm der Stille umtoste Verlorenheit. 75 Minuten später wird er genau das erleben, nur als Krankheit, als Regression ins Infantile: geistige Umnachtung. „O süßer Tod“ ist die letzte Verlockung, die ihm schon zu Beginn von den Stimmen in seinem Kopf als Erlösung angeboten wird. Denn allzu viele Schicksalshiebe gingen zum Verzweifeln treffsicher auf ihn nieder. Sein Frühlingserwachen und sommerliches Erglühen im sittenstrengen Pastorenhaushalt war eine nachtschwarze Zeit, die angehimmelte Friederike wies ihn nachhaltig zurück, Mentor Goethe jagte ihn mit Hohn und Spott vom Dichterhof zu Weimar und das eitel dösige Treiben der in Auflösung begriffenen spätfeudalen Welt war dem überwachen, hypersensiblen, wahnsinnig hellsichtigen und freiheitsdurstigen Literaten eine Zumutung. „Das Nachdenken macht Kopfweh.“ Zur inneren und finanziellen Not kommt die gesellschaftliche Ächtung. Dann nehmen auch noch die schizophrenen Schübe überhand. Verzehrend.
Unter der präzisen, mit nur wenigen symbolischen Mätzchen aufwartenden Regie von Marco Štorman seziert Jakob Lenz diesen wehrlosen Zustand wachsender Isolation bei lebendigem Leib auf offener Bühne, öffnet Herz und Hirn und deliriert in einem Bewusstseinsstrom, verquickt mit der fragil neoexpressionistischen, qualvoll klangzerklüftenden Seelenmusik Wolfgang Rihms, der klassische Formate, Volkslied und Schlager als Boten einer harmonischen, human scheinenden Wirklichkeit zitiert, als Verweis auf den demütigenden Charakter der Wirklichkeit aber gleich wieder zersplittern lässt. Dissonanz als Ausdrucksverstärker. Und messerscharfe Akzentuierungen des Leidens. Der musikalische Leiter Killian Farrell ist Koordinator des vielschichtigen Geschehens und sucht mit elf Musikern der Bremer Philharmoniker nicht den emotionalen Zugang, sie gehen die Partitur eher akademisch, kühl sezierend an, finden erst spät zu einem intensiven Zusammenspiel.
Das Setting ist spektakulär. Die szenische Behauptung einer Innenschau – alles spiele sich in Lenz‘ Kopf ab, während die Menschen ihm beim Bloßstellen beob- und begutachten – führte Bühnenbildnerin Jil Bertermann zum Arena-Arrangement des anatomischen Theaters aus dem Mittelalter, das sie auf der Hauptbühne des Theaters am Goetheplatz realisieren ließ. Steil ansteigende, im Kreis um das Zentrum des Geschehens angeordnete Stehplätze mit sehr schmalen Sitzbänken für die kleinen Muskelentspannungen zwischendurch. 290 Besucher finden dort Platz. Einst waren diese Orte Hörsäle der Schaulust, in denen Leichenöffnungen und -zergliederungen zu Ausbildungszwecken von Medizinern vorgenommen wurden. Statt des Seziertischs steht nun ein Bühnenrondell im Fokus der Tribünengäste. Auf der eben nicht ein toter Körper obduziert, sondern die geschundene Psyche eines lebenden Exemplars Mensch genauer betrachtet wird. Lenz steht so konsequent im Mittelpunkt seiner Geschichte geistigen Zerfalls und in geradezu intimer Nähe zum Publikum, so dass Operngesang in seiner ganzen emotionalisierenden Kraft geradezu körperlich zu erleben ist.
Der rückhaltlos sich verausgabende Claudio Otelli überzeugt gleichermaßen als Schauspieler, prononcierter Sprecher und Sänger mit warm timbriertem Bariton in der Ausformulierung des auskomponierten Psychogramms, schmeißt sich so leidenschaftlich wie souverän in den rasenden Kampf gegen innere Vereisung – passend dazu gewinnt das auf dem Spielpodest ausgekippte Wasser per Theatertrick so nach und nach die Anmutung von Schneematsch und Eis. Otellis Lenz haucht, keucht, schreit, wütet, stammelt, wimmert, flüstert. Hat Visionen, hört Stimmen. Verkriecht sich angstgepeinigt unter der Bühne – und kommt tänzelnd wieder hervor. Irrt durch seine Halluzinationen. Sehnt sich dabei in den „üppig quellenden Schoß der Mutter Natur“, bejubelt die Sonne, stapft in Gedanken durchs Gebirge, träumt sich in die Wolken. Während die Verkörperungen der Stimmen, sechs Opernchoristen, ihn zu weiteren Wahnideen verlocken und zum Selbstmord becircen – als Vereinigungschance mit der Geliebten, die aufgrund ihrer Abwesenheit bereits im Jenseits verortet wird. Dann aber doch auftritt, wenn auch nicht als Prinzessin des Herzens, sondern als geisterhafte Seniorin, die eher Lenz‘ Sehnsucht nach großmütterlichen denn sexwilligen Umarmungen ausdrückt. Während Pfarrer Oberlin (Christoph Heinrich) und der Arzt Kaufmann (Christian-Andreas Engelhardt) vor allem Beispiele sind, wie grotesk Lenz die Außenwelt wahrnimmt. Erst final betrachten die beiden als reale Freunde ihren Pflegefall – und tun ihn als hoffnungslos ab. Während er zum Erbarmen das Wort „konsequent“ manisch wiederholt, was den Bruch markiert, keinen sinnhaften Zusammenhang, nirgends Wahrheit mehr im Lebens zu erkennen – aus der sich tätiges In-der-Welt-Sein konsequent ableiten ließe. Ein verstörender Abend: klanglich diffizil, szenisch schlüssig, sängerisch und darstellerisch eine Wucht.