Foto: Regine Andratschke und Bálint Tóth in "Die Ereignisse" © Oliver Berg
Text:Isabell Steinböck, am 7. September 2015
Eine ältere Frau und ein junger Mann ringen miteinander. Der Junge befreit sich, drängt zum schmalen Ausgang auf die Hinterbühne, vorbei an Erinnerungswänden aus Kuscheltieren, leeren Bilderrahmen und Grablichtern (Bühne: Claudia Irro). Da boxt ihn die Frau in den Magen: So leicht lässt Claire ihr Gegenüber nicht gehen, dabei würde sie ihn liebend gern vernichten, zu grausam waren „die Ereignisse“, mit denen er sie aus der Bahn warf.
David Greigs Drama „Die Ereignisse“, das am Theater Münster als deutsche Erstaufführung Premiere feierte, könnte auch „Das Massaker“ heißen, denn was hier so sachlich neutral umschrieben ist, thematisiert eines der schockierendsten Attentate überhaupt. Der schottische Autor hat auf den Amoklauf des Norwegers Andres Breivik dramatisch reagiert; Breivik hatte Im Jahr 2011 rund 80, meist junge Menschen, in einem Sommercamp auf der Insel Utøya getötet hat. Es hätte auch ein Schulattentat sein können oder ein Terroranschlag der NSU, geht es hier doch weniger um die konkrete Tat, als um die Folgen. Was David Greig umtreibt, sind die Opfer – in diesem Fall Claire, Leiterin eines multikulturellen Kirchenchors, die durch einen Amoklauf alle Sängerinnen und Sänger verliert. Halb wahnsinnig vor Schmerz und Hilflosigkeit, lässt sie eine Frage nicht los: Warum hat er das getan?
Regisseur Frederik Tidén legt den Fokus des Stücks, das für zwei Schauspieler und einen Chor geschrieben ist, auf die psychologisch zwanghafte Verbundenheit des Opfers zum Täter. Der münsterische Laien-Chor (in jeder Vorstellung steht ein anderer auf der Bühne), quasi Sprachrohr der Gesellschaft, sorgt durch seine Lieder für sakrale, melancholische Atmosphäre und steht auch mal stumm, wie zur Erinnerung auf der Bühne. Die Dialoge spielen sich vor allem zwischen Regine Andratschke alias Claire und dem jungen Bálint Tóth ab. Dass letzterer neben der Rolle des Attentäters weitere Charaktere verkörpert – den alkoholsüchtigen Vater, einen rechtspopulistischen Parteigenossen, Claires Psychiater, sogar ihre Geliebte – ist mitunter irritierend, macht aber eine Stärke der Inszenierung aus, denn natürlich kann das Drama keine schlüssigen Antworten liefern.
Die Figur des Amokläufers bleibt in der Schwebe, auch wenn der wandlungsfähige Bálint Tóth Hinweise bietet als er hilflos-stotternd auf der Bühne steht, ein Häufchen Elend, das Schutz unter einer Fellmaske findet. Ein Berserker ist er dann, gefährlich-ruhig und unberechenbar, auf der Suche nach Macht und Ruhm. Claire presst er die Maske mit Gewalt auf, später kriecht sie freiwillig unter seinen Pulli: „Wie kann ich ihn hassen, wenn ich ihn nicht verstehe?“ ist ein zentraler Satz, der lange nachwirkt.
Regine Andratschke trägt etwas dick auf, die Verzweifelte nimmt man ihr dennoch ab. Unter Tidéns Regie gelingen eindrucksvolle Szenen, etwa, wenn sich Claire in Schamanismus flüchtet und dabei durch einen Hexenschuss voll ausgebremst wird – ein Moment zwischen Lachen und Weinen, der ihr Elend umso plastischer macht. Berührend auch der Alptraum am Schluss, als die Frau glaubt, den Attentäter vergiftet zu haben und zum ersten Mal ein Hauch von Glück spürbar wird. Doch der Mörder steht immer wieder auf, Claire wird ihn einfach nicht los. Ein starkes Stück.