Foto: Christoph Vetter, Berna Celebi und Elisa Reining in "Vögel" am Theater Lüneburg © Jochen Quast
Text:Jens Fischer, am 18. Februar 2023
Das idyllische Lüneburg im Blickpunkt der erregten Theaterwelt. Anlass ist eine Premiere von eigentlich eher regionalem Interesse: Nach einer zweijährigen Verschiebung sollte die 22. deutschsprachige Neuinszierung von „Vögel“ nachgeholt werden. In der Zwischenzeit wurde das Stück des Pariser Theatermachers Wajdi Mouawad am Münchner Metropoltheaters im November 2022 vom Spielplan genommen. Zwei jüdische Studierendenorganisationen hatten den Text zuvor als antisemitisch, die Schoah relativierend und Israel-feindlich kritisiert. Erschrocken und verwundert war das Team um Regisseur Mario Holetzeck. Denn solche Vorwürfe waren angesichts der weltweiten, selbst in Tel Aviv erfolgreichen Aufführungen bisher nirgendwo zu lesen oder zu hören gewesen. Haben alle was übersehen? Das Lüneburger Theater suchte Rat beim Verlag des Stücks, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, einem Ex-Israel-Korrespondenten des „Spiegel“ und dem Antisemitismusbeauftragten Niedersachsens. Überall hieß es: Die von Mouawad angerissenen Debatten im Haifischbecken Palästina dürften nicht verschwiegen, verdrängt oder verboten, sondern müssten im Theater zusammen mit Einführungen, Nachgesprächen und Podiumsdiskussionen geführt werden. Voraussetzung: ein höchst sensibler Umgang mit den inkriminierten Textstellen. Klappt das?
Sehr gut! Weil Holetzeck nach dem Motto inszeniert, dass nichts so heiß serviert wird, wie es hochgekocht wurde. Abgesehen von der pathetischen Musik setzt die Regie sorgfältig auf sachliche Klarheit und verzichtet der Ernsthaftigkeit zuliebe sogar auf viele Möglichkeiten, dem Publikum Vorlagen für befreiendes Lachen zu spendieren. Das auf vier immer wieder neu arrangierten Stellwänden bestehende Bühnenbild (Ausstattung: Gundula Martin), ein beeindruckend schönes Lichtdesign und teilweise getanzte Textpassagen (Choreografie: Gundula Peuthert) betonen eine dezent abstrahierende Künstlichkeit. Auch die Schauspieler stellen die Worte und Gefühle ihrer Figuren eher vorsichtig aus, also zur Diskussion, anstatt mit kraftstrotzender Darstellungsvirtuosität zu überwältigen. Sie werden eher mal laut denn hitzig emotional (herausragend als bissig direkt argumentierende Großmutter: Heidrun Bartholomäus). Zudem stellt die Regie den sehnsüchtigen wie verzweifelten Befriedungsaufruf des Finales schon an den Anfang der Aufführung, da ist dann in einem jüdisch-muslimischen Hoffnungsmärchen von einem Vogel zu erfahren, dem Kiemen wachsen, so dass er in seinen Lüften und mit den Fischen im Wasser friedlich zusammenleben kann.
Die Fallhöhe ist und bleibt aber hoch. Denn aus dem dramatischen Kontext gerissen klingen einige Sätze schwer erträglich. Etwa wenn KZ-Überlebende mal eine flotte Bemerkung übers In-den-Ofen-Schicken machen. Oder wenn die Behauptung erblüht, dass jede nachwachsende Generation in Israel zwangsweise mit der Schoah traumatisiert werde. Und darf jemand sagen, die Überlebensschuld des jüdischen Volks lasse es denken, es dürfe sich alles erlauben – beispielsweise alle Feinde „ausrotten“ und „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ Rache nehmen?
Genaue Arbeit mit dem Figuren
Trotz Krankheitsausfällen – erst die zweite Aufführung (die der Kritiker besuchte) konnte in der angekündigten Besetzung gespielt werden – erkundet das Lüneburger Ensemble die Figuren sorgsam differenzierend und macht so im Zusammenhang des Stücks deutlich, aufgrund welcher Situation und Gefühlslage eben diese oder jene Aussage eine glaubwürdige Exaltation des jeweiligen Charakters ist und szenisch Sinn macht. Nicht weil der Autor oder das Theater Lüneburg den Inhalt der Sätze so transportieren will, sondern weil in einem fiktionalen Rahmen das Personal in möglichst vielen Facetten präsentiert wird und dabei mal sympathische, mal unsympathische, empathisch kluge und verzweifelt überspitzte oder auch ungerechte Aussagen macht. Die jüdischen Figuren werden dabei weder dämonisiert noch sind es antisemitische Stereotypen, sondern Menschen, die wie wir alle nicht so sind wie wir idealerweise sein sollten. Zu keinem Moment haben die Dialoge in Lüneburg den Charakter von Proklamationen eines Agitproptheaters.
Nehmen wir ein Beispiel: das ablehnende Entsetzen, als Eitan (Christoph Vetter) seinen jüdischen Eltern von seiner arabischen Freundin Wahida (Berna Celebi) erzählt. Irgendwann poltert es aus ihm heraus: „Wenn Traumata Spuren in den Genen hinterließen, die wir unseren Kindern vererben, glaubst du, unser Volk ließe dann heute ein anderes die Unterdrückung erleiden, die es selbst erlitten hat?“ Eine giftig böse Behauptung. Die in Lüneburg nicht mit Nachdruck, sondern nur deutlich ausgesprochen wird, ohne dass jemand darauf reagiert. Ein Versuch der Täter-Opfer-Umkehr? Sind jüdische Israelis die Nazis von heute und erleiden Palästinenser dasselbe wie die Opfer des Holocaust? Natürlich ist das inhaltlich falsch und eine Relativierung des Holocausts, der mit nichts zu vergleichen ist. Aber Eitan fühlt sich vom erz-jüdischen Vater herausgefordert und fährt diese schutzmechanistische Gegenattacke. Er will als Genforscher die Objektivität der Wissenschaft verteidigen und seiner Empörung über die israelische Politik Ausdruck verleihen.
Wenn immer mal wieder jüdischer Humor bitterschwarz aufblitzt, heißt das nicht, dass mit jüdischen Figuren Schoah-Witze salonfähig gemacht werden sollen, sondern nur, dass es jüdische Menschen gibt, die so reden. Schwer zu ertragen ist das. Das Publikum stöhnt entsetzt auf, so soll es aber auch sein – nämlich wehtun, um die schmerzhaften Konflikte zu verstehen und der Werbung für Toleranz zu erliegen, auf die das Stück unzweifelhaft zuläuft. Gerade in der sarkastischen Ironie werden in Lüneburg die Nachwirkungen des Leids des Holocausts auch für die zweite und dritte Generation spürbar. Aber richtig ist: Aversionen und Rassismen gegenüber Juden in muslimischen und arabischen Familien werden nicht vorgeführt.
Herausforderung der Perspektive
Der in München geäußerte Einwand, Eitans Freundin Wahida werde als Araberin idealisiert, bewahrheitet sich in Lüneburg nicht. Wenn sich die perfekt assimilierte US-Bürgerin im Westjordanland, der Heimat ihrer Mutter, zur palästinensischen Heimat-Herkunft-Vergötterung entschließt, ignoriert sie ihren aufgeklärten Geist und wird dogmatisch. Auch wenn sie durch die radikale Ablehnung von Eitans Eltern scheinbar dazu getrieben wurde.
Durchaus als Heldin ist in Lüneburg eine Soldatin zu erleben, die nicht laut Münchner Kritik das Klischee vom übergriffig autoritär, brutalen Machtgebaren Israels bestätigt, da sie keineswegs bösartig das Verhör Wahidas gestaltet, sondern mit kalter Überzeugung ihren Job erledigt, um später im Kreuzfeuer zwischen jüdischer und palästinensischer Gewalt und Gegengewalt zu verzweifelter Menschenfreundlichkeit für Juden wie Araber zu erwachen.
Die Zuschauer in Niedersachsen reagieren mit Standing Ovations auf die Inszenierung. Beim Nachgespräch mit rund 50 Teilnehmern (von knapp 400 Vorstellungsbesuchern) erklären viele, sehr „berührt“, „bewegt“ zu sein. Weil die Geschichte so „allgemein menschlich“ nachzuvollziehen sei. „Das ist Gegenwart, das ist hier“, sagt eine Person. Für einige geht es in der Aufführung weniger um den politischen Hintergrund, sondern eher darum, wie Liebe gelebt werden kann in einer zerrissenen Welt – oder ganz grundsätzlich um Fragen von Herkunft, Identität und sozialem Miteinander in Zeiten identitärer Radikalisierung.
Fast alle Besucher, die sich zu Wort melden, können keinen Antisemitismus in der Aufführung entdecken. Nur einer widerspricht: Dass die Palästinenser den Staat Israel vernichten wollen, sei Fakt und notwendiges Wissen, um den Nahost-Konflikt zu verstehen, werde aber im Stück nicht erwähnt. Wenn auf der Bühne unwidersprochen der Satz falle, „dass das bestialische Massaker (an palästinensischen Zivilisten in den Flüchtlingslagern Sabra und Chatila, 1982) von israelischen Aggressoren mit der offensichtlichen Zustimmung des imperialistischen Westens begangen wurde“, habe das ein „Geschmäckle“. Das Stück sei eindeutig nicht ausgewogen. Was Dramaturgin Hilke Bultmann bestätigt. Es fehle der palästinensische Widerpart und die Kritik an ihm, weil das Stück eben eine jüdische Familie schildere, das sei die Perspektive, damit setze es sich auseinander. Dass das schon abendfüllend und komplex genug ist, beweist das Theater Lüneburg.