Foto: Eine echte Attraktion: Die Vokal-Performerin Erika Stucky als Zauberin © Paul Leclaire/Ruhrtriennale 2019
Text:Detlef Brandenburg, am 29. August 2019
Das Problem von David Martons neuster Opernüberschreibung „Dido and Aeneas, Remembered“, die im März an der Opéra National de Lyon herausgekommen war und gestern bei der Ruhrtriennale in deutscher Erstaufführung gezeigt wurde, ist, dass sie sich sehr langatmig an einer Binsenweisheit abarbeitet: An der These nämlich, dass uns in überkommenen Kunstwerken und Artefakten immer auch die eigenen Geschichten begegnen. Ja was denn sonst? Wo immer Menschen in der westlichen Zivilisation sich der Vergangenheit zugewandt haben, war das in der Tat die Grundannahme: Das sie ihnen „etwas zu sagen haben“. Zunächst eher unreflektiert. Spätestens Herder und Humboldt aber und nach ihnen die Hermeneutik haben sich ausgiebig über Konsequenzen und Widersprüche dieser Annahme Gedanken gemacht. Dieser Reflexionsstrang setzt sich fort bis zu Jürgen Habermas, Jacques Derrida oder Umberto Eco. Nun also David Marton.
Raffiniert ist die Spiegelkabinett-Struktur, die sich daraus ergibt, dass die Frage nach unserem Verhältnis zu Vergangenem zugleich das Thema und die ästhetische Grundstruktur des Abends ist. Denn wenn Marton zusammen mit dem finnischen Gitarristen Kalle Kalima Purcells kleine Einstunden-Oper überschreibt, die ihrerseits einen von Vergil überlieferten antiken Mythos überschreibt, dann ist auch das ja die Aneignung eines vergangenen Kunstwerks. Und so sehen wir zu Beginn zwei leicht Loriot-komisch überzeichnete Toga-Träger, die sich in einer Art Sandkasten als Archäologen betätigen. Mit Pinsel und Schaber umständlich werkelnd, bergen sie rätselhafte Artefakte, betasten sie, schnuppern, lecken daran und versenken sie in einer mit Wasser gefüllten antiken Ziervase. Was da zutage kommt, stellt allerdings die Zeitfolge auf den Kopf: ein Handy, eine Computer-Tatstatur, eine Maus… Und die beiden Toga-Träger sind dann doch keine altgriechischen Ahnherren von Heinrich Schliemann, dem Troja-Entdecker; laut Programmheft stellen sie das olympische Ehepaar Jupiter und Juno dar, Urbild allen bürgerlichen Ehezwists und in solcher Zwietracht verantwortlich dafür, dass Troja fallen und Aeneas Rom gründen musste.
Die Artefakte, die diese göttlichen Archäologen bergen, stammen aus Karthago, jener antiken Mittelmeer-Metropole, die von Rom in drei Punischen Kriegen in Trümmern gelegt wurde, und wo ein Jahrtausend zuvor die phönizische Prinzessin Dido den in Sachen Rom-Gründung reisenden Troja-Flüchtling Aeneas aufgenommen und liebend bestrickt hatte. Genauer: Sie stammen aus dem abstrakten Fachwerk-Haus mit offenen Fächern, das der Bühnenbildner Christian Friedländer in die Weite der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord gestellt hat; rechts und links außerhalb des Hauses finden sich noch zwei Nebenräume, in denen Dinge geschehen, über die die Zuschauer per Live-Video (Adrien Lamande) unterrichtet werden. Hier also, von der Kostümbildnerin Pola Kardum in heutigen Designer-Schick gekleidet, wohnt Dido mit ihrer Vertrauten Belinda. Und hier finden sich auch all die Errungenschaften neuster Kommunikationstechnik wieder, die als rätselhafte Artefakte in der archäologischen Sandkiste des Götter-Ehepaars wieder zum Vorschein gekommen waren. So weit, so wirr.
Aber wie gesagt: Die sich so entspinnende Spiegelstruktur hat ihren Reiz, auch deshalb, weil sie sogar in den musikalischen und theatralen Mitteln konsequent durchgespielt wird. Die Affekte von Purcells Oper werden von Kalle Kalima sehr geschickt aufgegriffen und in Modern-Blues-Stimmungen heutiger Popmusik überführt. Viel davon steuert er selbst auf der Gitarre bei. Aber auch dem kleinen, um eine ausgezeichnete Continuo-Gruppe verstärkten Orchester von der Oper Lyon gestattet er einige Ausflüge in moderne Klangflächen. Wobei die Übergänge so raffiniert sind, dass man manchmal nicht weiß, wo Purcell aufhört und Kalima anfängt. Auch in den Bühnenaktionen gibt es eine konsequente Mehrschichtigkeit: parodierte Antike bei den beiden Göttern, traditionelle Operngesten auf der Karthago-Ebene, wobei deren Figuren aber gelegentlich in einen saloppen Boulevardtheater-Realismus fallen. Und eine ganze eigene Ebene fügt die großartige Schauspielerin, Jazzsängerin und Gesangs-Performerin Erika Stucky hinzu: Als Schamanin einer atavistischen Kultur in schwarzem Wallekleid und Cellophan-Kopfschmuck vertritt sie quasi Purcells Zauberin. Jeder ihrer Auftritte ist eine eigene Gesangsperformance, bei der sie auf absurd-schräge Art, beispielsweis mit einer Schaufel als Rhythmus und Melodie(!)-Instrument, Patterns oder Stimmungen von Purcells Musik aufgreift und fortspinnt.
An diesem polystilistischen Feuerwerk hat man punktuell durchaus seinen Spaß. Nur ist das Gesamtkonstrukt einfach zu verschwurbelt gedacht und zu allgemein in seiner Grundbehauptung. Wieso staunen Jupiter und Juno als Archäologen Bauklötze über eine Geschichte, in die sie doch als lenkende Götter selbst verstrickt sind? Was soll die Umkehr der Zeitstruktur? Warum bleibt das Live-Video – allzu verliebt in seine Close-Ups von Sandstürmen im archäologischen Sandkasten – bloße ästhetische Dekoration? Was soll man von der durchschlagenden Ratlosigkeit im Umgang mit dem Chor halten, der mal als anonyme symmetrische Menge auf dem rückwärtigen Video-Screen erscheint, dann aber auch gern mal in seltsam lieblosen Auftritten leibhaftig auf der Bühne vorbreischaut? Diese mangelnde Stringenz führt dazu, dass der Abend ziellos um die Grundbehauptung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen herum mäandert – und streckenweise langweilig wird. Schade.
Wie die Protagonisten das alles in der Höllenhitze der Kraftzentrale herüberbrachten, war allerdings bewunderungswürdig. Orchester und Chor agierten unter dem extrem souveränen Pierre Bleuse sehr stilbewusst und einfühlsam; Alix Le Saux und Claron McFadden sangen und agierten als Dido und Belinda sehr ausdrucksvoll; Guillaume Andrieux allerdings blieb als Aeneas blass. Viel Beifall und Bravos für alle Beteiligten.