Foto: Oskar Ketelhut (Wanja) und Birthe Gerken (Helene) in "Unkel Wanja" am Ohnsorg-Theater Hamburg. © Jutta Schwöbel.
Text:Andreas Berger, am 13. November 2012
Von wegen Tratsch im Treppenhaus. Am Hamburger Ohnsorg-Theater hat man neben Schwänken immer schon das psychologisch-naturalistische Schauspiel gepflegt. Im neuen Haus am Hauptbahnhof stand nun endlich die plattdeutsche Erstaufführung eines Stücks von Tschechow an, Meister menschlicher Charakterzeichnung in einer zwischen ahndungsvoller Elegie und heiterer Verzweiflung schwankenden Atmosphäre.
Michael Bogdanov, der zum Einstand im Biberhaus Shakespeares „Sommernachtstraum“ zu zeitlos-modernen Liebesszenen verhalf, blieb für „Unkel Wanja“ nun ganz in der Spielzeit des Stücks: einsame Menschen wandeln vor hohen Fenstern mit gewitterdräuendem Himmel zwischen Buchregalen, Flügel und Chaiselongue. Es gehört zum Wesen Tschechows, dass die Kommunikation der Figuren nur selten gelingt, dass eher Selbstausschüttungen unverwandt aufeinander prallen und dazwischen das große nackte Nichts in lastender Breite sich ausweilt. An diesem langen Weilen, dem Mut zu überdehnten Pausen und gespannten Ruhephasen fehlt es in Bogdanovs Regie. Dafür hat er die emotionalen Aufwerfungen geschärft, die gleich Hilfeschreien der dem Lebenssinn entgleitenden Menschen wirken.
Hervorragend gelingt dies vor allem Oskar Ketelhut als Onkel Wanja, wenn er, wie ein Kind den Kopf auf die Arme gekuschelt, über den Tisch guckt und sich in einen Lebenstraum verliert, von dem er längst weiß, dass er zerplatzt ist. Umso heftiger sein Ausbruch gegen den Professor, dessen Ideale er einst teilte, und von dem er sich ausnutzen ließ als Arbeiter auf dem Gut, so dass er sein eigenes Leben verpasste. Ketelhut spielt wunderbar auf der Schneide zwischen bitterer Selbstironie und kindlichem Trotz, ein gutmütiger Gefühlsmensch, dem die Seele überkocht.
Sein intellektuelles Pendant ist der Arzt Aster, der Helfer der Menschen und Schützer der Natur auf dem Weg zum alkoholisierten Zynismus. Erkki Hopf zeigt gut die innere Zerbrochenheit, die nur noch dürftig durch äußere Form verhohlen wird. Beide sind verliebt in die junge Frau des Professors, Helene. Birthe Gerken spielt sie etwas zu handfest für ein Undinenwesen, dessen bloße Anwesenheit einen lähmenden Zauber über das Haus legt und alle Selbsterkenntnisse zur Sprache bringt, die sonst in klagloser Arbeit verborgen blieben. Und während Wilfried Dziallas als Professor wie ein nöliger Egozentriker aus seinem Wolkenkuckucksheim herübergrüßt, gehen die Tatmenschen unter dem Eindruck der Krise wieder an ihre Arbeit: Birte Kretschmer spielt überzeugend die innere Versteinerung, mit der sie nach den nur vermeintlichen zwischenmenschlichen Erwärmungen wieder in ihren Dienst flüchtet. Und Uta Stammer verkörpert als alte Kinderfrau die völlige Übereinstimmung von Arbeit und Leben, gleich derb und doch gütig gegen jedermann, solange nur pünktlich gegessen wird.
Wem Tee nicht hilft, dem hilft ein Kööm. Uta Stammers starke Präsenz gibt vielen Szenen Halt und Grundlage. Wenn die Stricknadeln klappern und die Feder kratzt, ist für Nihilismus kein Platz mehr. – Eine schöne Ensemblearbeit!