Foto: Josefine Israel, Julia Wieninger, Tilman Strauß in der Uraufführung von "Schlafende Männer" © Stephen Cummiskey
Text:Anne Fritsch, am 18. März 2018
Ein Altbau-Esszimmer mit offener Küche. Großzügig, Fischgrätenparkett, in der Mitte ein edler Holztisch mit stilvollen Stühlen, an der Wand Regale voller Kunstbände und Musik, ein Fünfziger-Jahre-Sessel, darüber eine Schwarz-Weiß-Fotografie. Eine Schöner-Wohnen-Wohnung. Geschmackssicher, intellektuell, aufgeräumt, reduziert, irgendwie leblos (Bühne: Alex Eales). Am Tisch sitzt Julia (Wieninger). Paul (Herwig) schaut aus dem Fenster in die Nacht. Plötzlich springt Julia auf, geht auf Paul los: „Also: Welchen Grund gab es, ein Kind zu kriegen?“ Die beiden haben keines gekriegt, drum fährt sie fort, sich zu rechtfertigen: „Es gab damals für dich und mich nicht mehr Grund, ein Kind zu kriegen, als es für die Leute heute einen gibt. Nein – es gab keinen Grund, ein Kind zu kriegen.“ Was vorher gesprochen wurde, wissen wir nicht. Paul brüht sich erstmal einen Tee auf. Möglicherweise hat er sich in 20 Jahren Ehe daran gewöhnt, nicht immer alles zu verstehen, was seine Frau umtreibt. Vor langer Zeit fielen sie über einander her, erinnert er sich später, dann kauften sie die unbequemen Stühle – „und seitdem sitzen wir darauf“.
Katie Mitchell inszeniert am Hamburger Schauspielhaus die Uraufführung eines Stückes, das Martin Crimp eigens für diese Inszenierung geschrieben hat: „Schlafende Männer“. Ein Stück über zwei Paare in verschiedenen Lebenslagen, die eine Nacht miteinander verbringen. Das erinnert an Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ – und das ist kein Zufall. Es ist ein Remake unter leicht veränderten Vorzeichen. Crimp wollte die „bittere Energie“ Albees mit der Rätselhaftigkeit der Gemälde von Maria Lassnig verknüpfen. Diesen Gemälden von nackten Menschen, die unergründlich miteinander verbunden, aber auch einander fremd wirken, intim und gleichzeitig jeder in seiner eigenen Realität.
Mitten in die Trostlosigkeit der Beziehung zwischen Julia und Paul, die so wenig Spannung für einander übrig haben, dass sich selbst eine Scheidung nicht lohnen würde, tritt also Julias neue junge Angestellte Josefine (Israel) mit ihrem Freund Tilman (Strauß). Julia habe sie eingeladen (wovon Paul mal wieder nichts weiß). Die Parameter beider Stücke sind gleich: Auf der einen Seite das erfolgreiche Akademikerpaar, auf der anderen die nächste Generation. Ein Treffen, das durch die berufliche Hierarchie keines auf Augenhöhe ist. Die Feinabstimmung ist aber bei Crimp eine andere als bei Albee: So ist Josefine tatsächlich schwanger. Und Julia ist zwar wie die Martha bei Albee frustriert, arbeitet aber intellektuell gegen die latente psychische Belastung der Kinderlosigkeit an anstatt sich in eine Phantasiewelt mit Sohn zu flüchten. Sie bekommt Anerkennung im Job, ist nicht nur Ehefrau, sondern emanzipiert und erfolgreich. Dennoch: Das Kinderthema – oder vielmehr: das Keine-Kinder-Thema – treibt sie um. Aber ihre Demütigungen sind subtiler: Sie weiß, dass Paul nichts falsch gemacht hat – nie hat er sie geschlagen, gut, auch selten geküsst. Vielleicht ist dieser Paul ein wenig zu selbstgenügsam, hat sich zu schnell zufrieden gegeben mit den vielen Leerstellen in ihrem Leben.
Die Figuren, die allesamt die Vornamen ihrer Darsteller tragen, haben wenig gemeinsam. Während Julia und Paul ihr Privatleben anscheinend vollständig ihren Karrieren geopfert haben (Paul: „Warum sollte uns irgendwer besuchen?“), erzählt Josefine schon beim Hereinkommen, dass sie Drogen genommen haben und tollen Sex hatten, an den sie sich allerdings kaum erinnern können. (Nur die Fotos, die ein Freund gemacht habe, ließen darauf schließen.) Worauf Paul nur müde erwidert, er könne sich auch nicht erinnern, Sex gehabt zu haben. Was also wollen diese Menschen mit- und voneinander? Crimps Stück ist ein merkwürdiges, weil alles, was man erfährt, die Sache irgendwie noch rätselhafter macht. Die Gegenwart der anderen ist für die Figuren Anlass, Geschichten über sich selbst zu erzählen, Befindlichkeiten an den Mann oder die Frau zu bringen. Sie breiten Intimes vor einander aus, ohne sich näher zu kommen. In jedem Satz vermutet man eine Doppelbödigkeit.
Katie Mitchells Zugriff unterstützt die beinahe mystische Stimmung perfekt. Immer wieder stoppen die Schauspieler, bewegen sich im Fast Forward oder in Zeitlupe weiter wie im Film. Wie nicht von dieser Welt schleichen sie synchron durch den Raum. Über allem liegt etwas nicht zu Fassendes, Beängstigendes. Eine unbestimmte Bedrohung des gesamten Daseins, aller Gewissheiten. Der Alltag, hier wird er zum latenten Horror. Mitchell erzeugt eine Stimmung, in der die Abgründe zwar lange nicht sichtbar werden, man sie aber überall vermutet. Man diesen Menschen irgendwie alles zutraut. Immer wieder kippt die Stimmung plötzlich, lassen die Figuren die gute Form fallen und werfen ihrem Gegenüber einen Brocken Wahrheit hin, um den der andere nicht gebeten hatte. Als am Ende tatsächlich Blut fließt, ist das kaum überraschend. Es ist irgendwie die logische Konsequenz aus 20 Jahren verpassten Lebens.