Foto: Adina Aaron, Caroline Klütsch und Jovita Vaskeviciute in der Inszenierung von Clemens Bechtel. © Klaus Lefebvre
Text:Andreas Falentin, am 31. Oktober 2011
Der vom Dokumentartheater kommende Regisseur Clemens Bechtel versucht im Kölner Palladium die oft behaupteten theatralischen Potentiale von Verdis Totenmesse auf eigenwillige Weise aufzuschließen. Er konfrontiert das „Requiem“ mit Schicksalen und Beobachtungen von vier Menschen, die ihre Erlebnisse auf der Bühne live erzählen: Eine junge Frau, die fast an Bulimie gestorben wäre; eine Frau, die während der Katastrophe von Fukushima in Japan war; eine Entwicklungshelferin, die mit einer Morddrohung und dem Tod eines Straßenjungen konfrontiert wird; und ein Schriftsteller, der, bei dem Versuch seinen sterbenden Vater in der Türkei zu besuchen, grundlos verhaftet wird und vom Tod aus der Zeitung erfährt. Gemeinsam ist diesen Geschichten nicht nur der Umgang mit Todeserfahrungen, sondern auch die bohrend immer wieder kehrende Frage nach individueller Verantwortung und Verantwortlichkeit.
Die vier Solisten agieren streng auf die Erzählungen und die Erzähler bezogen. Sie deklinieren Haltungen durch, vom unbeteiligten, souveränen Richter über den beflissenen Schutzengel bis zum Zerfließen in Mitleid. Je konkreter, je psychologisch ausgeformter ihre theatralischen Handlungen werden, desto durchlässiger wird das Regiekonzept für esoterischen Kitsch. Obwohl Regieteam und Sänger mit dieser Gefahr reflektiert umgehen und sie als quasi authentische Haltung markieren – die Qualität des Abends zeigt sich auf anderen Gebieten.
So wird beim Aufeinanderprallen von Laien und professionellen Künstlern auf der Bühne erstaunlich viel theatralische Energie frei. So schafft die von Fabrice Bollon konsequent von jeder Opernhaftigkeit wegdirigierte Musik zwischen entspannter Kontemplation und unbarmherzigem Aufbrausen eine Konzentration, die es dem Publikum ermöglicht, sich den lapidar vorgetragenen Lebensgeschichten zu öffnen. So reagieren Chor und Solisten durch die wochenlange Probenarbeit – theatralisch wie musikalisch – so sensibel aufeinander, wie das im Konzertsaal kaum je zu erleben ist. Nach den Streichern bei „Krieg und Frieden“ und den Holzbläsern im „Titus“ bilden diesmal die klar artikulierenden Blechbläser des Gürzenich-Orchesters das Zentrum des differenzierten, oft überwältigend schönen Klanges. Der in stilisierte Alltagsklamotten gekleidete Chor wächst über sich hinaus – im Singen, im Spielen und im Zuhören. In dem Bassisten Dimitry Ivashchenko und besonders der Sopranistin Adina Aaron hat die Kölner Oper zwei ideale Verdi-Interpreten gefunden. Jovita Vaskeviciute mit mächtigem Altstrahl und der junge Tenor Michael Fabiano stehen ihnen nur wenig nach.