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Verlorene Gotteskinder

Marina Carr: Phaedra Backwards

Theater:Staatstheater Darmstadt, Premiere:01.03.2013 (DSE)Regie:Patricia Benecke

Eine beschauliche Strandbucht, eine weiträumige Terrassenanlage – ein sonnenbeschienenes Idyll aus dem Reklameprospekt. Doch der Schein trügt bekanntlich. Denn unter der Oberfläche paradiesischer Geruhsamkeit versteckt sich nicht selten ein dunkler Untergrund. Vergangenheitsbewältigung wider Willen lautet das Sujet in Patricia Beneckes europäischer Erstaufführung von Marina Carrs „Phaedra Backwards“ am Staatstheater Darmstadt. Offenbart wird darin eine verwegene Götterkaste um das Ehepaar Theseus (Uwe Zerwer) und Phädra (Karin Klein). Längst ist die flamme ihrer Liebe erkühlt. Während der Unternehmer als Don Juan vögelnd durch die Lande zieht, ergeht sich die Enkelin des Sonnenkönigs Helios in zynischem Dandytum. Ähnlich dem Paardrama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf…?“ ertrinken sie Frust und Wut in Alkohol, stellen ihre Ehe als Schauplatz subtiler Diffamierungsfeldzüge aus. Auch das Bühnenbild vermag die Tragödie kaum zu kaschieren. Zu sehen ist ein Parkett voller Sektflasche, dessen weißer Glanz nur vordergründig die Fassade einer glücklichen Familieneinheit widerspiegelt. Alles scheint trügerisch, sogar der der Stand der Figuren, insofern die Bühne eine bedrohliche Schieflage gen Abgrund zu erkennen gibt.

In Wahrheit beherrschen Zank, Enttäuschung und Kapriolen das Spiel. Alte Konflikte schaffen sich ihren Weg in die Gegenwart und liegen wie ein Schleier auf einem brodelnden Dampfkessel. Dass Theseus einst ihren Bruder, den Minotaurus, umbrachte und Mitverantwortung für den Tod ihrer Schwester Aridne trägt, kann sich Phädra kaum verzeihen. Überwältigt von traumepisodischen Retrospektiven ihrer Kindheitsjahre, nagt die Schuld am Gewissen der Tochter Minos’ und Pasiphaes. Indem die Regisseuren in Filmaufnahmen und Gespräche mit Widergängern der Verstorbenen, Phädra ihre seelischen Traumata erneut durchlaufen lässt, wird das Parkett der Akteure zum Schmelztiegel. Wut und Ohnmacht entladen sich in zur Schau gestellten Provokationen der der Ehepartner, bis ein letzter Tabubruch den Kollaps bewirkt. Nachdem Phädra mit ihrem Sohn Hippolytus (Andreas Vögler) Inzest begeht, verstößt ihn der Vater – eine Hybris, die im Selbstmord des Sohnes den erwartungsgemäßen Zugriff der Rachegöttin Nemesis vermuten lässt.

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Obgleich die Neuinszenierung des antiken Mythos zunächst schleppend beginnt, überzeugt die Darmstädter Aufführung im Laufe des Geschehens. Insbesondere die Zerrüttung Phädras durch die auf Rache sinnenden verlorenen Seelen verlangt Karin Klein einiges ab und verleiht der Tragödie eine existenzielle Tiefe. Die Schuld ist zeitlos, weil sie selten ein Vergessen zulässt. Benecke lässt ihre Figuren singen, um sich in der Musik eine Flucht zu erträumen. Doch der Einfall der Wirklichkeit zehrt an der Konsistenz einer Gegenwart, welche die Vergangenheit mit Luftschlössern zu überbauen versucht hat. Jener Spagat erfordert sowohl Sentiment als auch Mut. Beides liefert die Darmstädter Inszenierung, es überträgt die antiken Sagengestalten ins 21. Jahrhundert und zeigt anschaulich: Auch Helden und Gotteskinder sind Menschen.