Foto: Szenenfoto mit Johannes Mayer und Brett Carter © Andreas Etter
Text:Björn Hayer, am 18. Juni 2020
Schrill, schräg, bunt – so sieht der Wilde Westen aus, den Niklaus Helbling in seiner Uraufführung „Das Tal der Ahnen“ zeichnet. Entsprungen ist die flippige Prärie zunächst einem Bessy-Comic. Während im Vordergrund Erich (Denis Larisch) und Unica (Katharina Uhland) mit Kinderspielfiguren auf dem Teppich den Konflikt zwischen indigenen Ureinwohnern Nordamerikas und den weißen Besatzern nachspielen, sehen wir auf seitlichen Monitoren die entsprechenden Bilder aus dem Jugendheft – soweit zum noch nachvollziehbaren Rahmen der Story.
Doch damit nicht genug an diesem Abend, der sich als breit angelegte Collage entfaltet. Denn zur Western-Handlung kommen weitere in losen Szenen eingepflegte Textflächen hinzu, nämlich mitunter Kafkas „Wunsch, Indianer zu werden“, Liedgut von Henry Purcell und Frank Zappa. So what?, fragt man sich als Zuschauer, wenn der Krieg zwischen dem Stamm der Cherokee und den Soldaten unversehens von Barockgesängen über die Vanitas allen Seins unterbrochen wird. Aber damit auch noch nicht genug! Denn darüber hinaus wartet die Bühnenrealisierung noch mit einer Rockband auf: Mal gibt sie einen Song über die Einsamkeit des Gemüses zum besten, das von einem verkleideten Schauspieler auch direkt verkörpert wird, mal vernimmt man das Stück „Who Are The Brain Police?“, begleitet von einem auf dem Bildschirm auftauchenden, schleimigen, sich fortbewegenden Gehirn. Dass diese eigenartige Darbietung durchaus Sinn ergibt, lässt sich nur über die zahlreichen assoziativen Querverbindungen, die das Gesamtwerk letztlich tragen, erklären. Denn die Kontrolle über das Gehirn, also den Raum des freien Denkens, berührt auch den aktuellen Gesellschaftsdiskurs um Political Correctness. Sie macht auch vor der verklärten Vorstellung vom Wilden Westen nicht Halt, wie eine prosaische Reflexionsszene des Ensembles veranschaulicht. Im Zentrum der Debatte steht das „I“-Wort. Während die Schauspielerinnen und Schauspieler so über die Unreinheit des Begriffs „Indianer“ philosophieren, putzt derweil eine von ihnen eine Plexiglasscheibe, die immer wieder zur Abstandswahrung Gebrauch findet – schlauer, metaphorisch genialer könnte man den Hygienediskurs um Corona ins Theater nicht einbauen.
Was Niklaus Helbling mit seinem Cross-Over-Arrangement, einer Mixtur aus Oper, Musical und Schauspiel, gelingt, ist, die Ambivalenz von Mythen herauszustellen. Die Prärie um Cowboy und Indianer erweist sich für uns als fantastischer Projektionsraum und Tatort kolonialen Hegemonialstrebens gleichermaßen. Doch warum dazu gerade Henry Purcell und Frank Zappa mit dem Plot des Comics kollidieren müssen, erschließt sich in der Inszenierung nur bedingt. Überhaupt mutet die Darbietung allzu oft überfrachtet und inkonsistent an. Als die Cherokee auf der Flucht vor den weißen Verfolgern endlich das Tal der Ahnen erreichen und natürlich eine der Hauptfiguren in der letzten Minute tragisch sterben muss, begibt sich das Ensemble in eine Selbsthilfegruppe. Diskutiert wird nunmehr die Umweltverschmutzung durch Plastik, bis sich alle schließlich durch Rauschmittel von menschlichen Affekten befreien. Was das Durcheinander noch zusammenhält, ist das Ankämpfen gegen den Tod und das Verschwinden. Dieses klingt nicht nur in Purcells ariosen Elegien an, auch die Erzählung Kafkas, in der einem Reiter Zügel, Sporn und selbst das Pferd abhanden kommen, deutet die Flüchtigkeit des Daseins an. Zuletzt bleibt nur die Kunst, das Trost spendende und uns von den Untiefen des Schicksals befreiende Erzählen.
Zugegeben, trotz einiger intelligenter Bilder und zweifelsohne hinreißender Momente leidet die Realisierung von „Das Tal der Ahnen“ an einem fehlenden Kompass. Ständig gewinnt man den Eindruck, von allem etwas too much zu sehen. Von einer missglückten Interpretation soll jedoch nicht die Rede sein, vielmehr haben wir es mit einem waghalsigen Experiment zu tun, das zu Freud und Leid des Publikums Funken in viele Richtungen schlägt.