Foto: Spiel zwischen Bühne und Leinwand in "Die Schritte der Nemesis" am Staatstheater Braunschweig © Joseph Ruben
Text:Andreas Berger, am 6. Juni 2022
Eine sehr späte Uraufführung und eine sehr beklemmende Aktualität: Nikolaj Evreinovs Stück über die Moskauer Schauprozesse 1936-38 zeigt so drastisch klar, wie mit Wirklichkeitsinszenierungen Propaganda gemacht wird, dass man nur ein paar Namen austauschen müsste und es könnte für heute geschrieben sein: Sagen wir Putin statt Stalin, nennen wir das Giftanschlagsopfer Nawalny, und beziehen wir die Säuberungen anhand falscher Selbstbezichtigungen auf die Zensur rings um den „Spezialeinsatz in der Ukraine“ – und schon trifft das 1956 posthum in Druck gegebene Stück auch auf das gegenwärtige Russland zu, kann darüber hinaus aber auch grundsätzlich erhellend über Lügen und Videos in autoritären Staaten wirken.
„Die Schritte der Nemesis“ heißt das an sich in klassischen Spielszenen verlaufende Drama Evreinovs und evoziert so die antike Rachegöttin, die erkennen lässt, wie schnell auch den gewieftesten Taktikern im Umfeld der Macht plötzlich auf dieselbe Art der Prozess gemacht werden kann, wie sie ihn früher selbst anderen anhängten. Evreinov beschreibt den Fall des Geheimdienstchefs Jagoda zur Stalin-Zeit. Gestürzt und abgeurteilt wurde stets im Namen des arbeitenden Volkes. Das „totalitäre Gerichtstheater“ bestand darin, dass die Schuld vorher feststand, der Angeklagte sie tunlichst bekannte und für sich selbst den Tod forderte, nur so konnte er auf Milde oder zumindest die schnelle Erschießung hoffen, während zum Tod Erklärte Freiwild für Foltersadismen wurden.
Ob sich das russische Volk einst selbst zur Nemesis aufschwingen wird und solche Autokratie beendet, wie das Stück beschwört, ist zweifelhafter denn je. Nicht zuletzt wegen solcher Schauprozesse, bei denen alle wissen, dass jeder lügt, aber auch die scheinbar unerschütterliche Allmacht des Apparats bestätigt wird. Selbst wenn sie schlecht gespielt werden, wie Stalin im Stück zugibt. Evreinov war auch ein großer Theatertheoretiker, der betonte, dass Menschen im täglichen Leben stets Rollen spielen. Sein Stück endet so auch mit dem bitteren Kommentar, dass „ein Volk, das derartige Vorstellungen duldet“, wohl noch kein besseres System verdient habe.
Kleine Einschläge aus der Gegenwart
Die späte Uraufführung am Staatstheater Braunschweig lädt nun die heutigen Zuschauer als Prozesspublikum zum Gericht der Nemesis. Die Produktion entstand in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich, die das Stück jüngst als Buch neu edierte, und der eigenen Braunschweiger Schauspieler mit der freien Gruppe „International Laboratory Ensemble“ unter Regie ihrer Leiterin Yuri Birte Anderson. Durch sie kamen unter anderem ein belarussischer Performer und eine ukrainische Performerin ins Spiel. Nun wäre es naheliegend gewesen, dass sie vor dem Hintergrund des klassischen historischen Stücks ihre Erfahrungen aus der tatsächlichen aktuellen Bedrohung durch ein autoritäres russisches Regime eingebracht hätten. Im Falle der Ukrainerin Antonina Romanova wird das auch so gemacht, weil sie sich entschlossen hat, in der Ukraine in der Bürgerwehr zu kämpfen, und nur per Video aus einem Keller in Kiew zu erleben ist. „Ich hätte euch gern in die Augen gesehen“, sagt die etwas unrasierte Transfrau mit tief lotenden Augen und erklärt auch, warum sie zurzeit keinen russischen Theatertext sprechen kann. Diese (vorher aufgezeichneten) Einblendungen gehen unter die Haut.
Grundsätzlich aber hat sich die Regisseurin für das Gegenteil entschieden: Wir erleben nicht das Theaterstück mit aktualisierenden Einblendungen, sondern die Theaterszenen als schwarzweiße Filmszenen, die allerdings hinter dem hinteren, knöchelhoch aufgezogenen Bühnenvorhang live aufgenommen werden. Die Filme stellen eine Art historischer Quellenbeweise dar. Dagegen werden vorn auf der wie von Gerichtsbanden umrahmten Prozessfläche von den Mitwirkenden eher die wahren Gefühle und Kommentare der Filmfiguren performt. So erfährt man auch etwas über die aktuellen erzwungenen Selbstbezichtigungen, die Menschen in Belarus per Video abgepresst werden, damit man sie als Propaganda über vermeintliche faschistische Verschwörungen nutzen kann. Andererseits werden dort ukrainische Opfer mit ihren dokumentierten Schilderungen aus Butscha als „Krisendarsteller“ verleumdet.
Blass und unverständlich
Die Performances auf der Gerichtsfläche sind ansonsten etwas gewollt bis plakativ. Warum etwa der windige Denunziant Radek nach seinem Verrat wie ein Storch daherschreiten muss, erschließt sich nicht. Wohingegen die Ballung der Performer zu Schreien oder ihr Herauswürgen sinnloser Buchstabengruppen zwar nachvollziehbar sind, aber den Ausdruck der Spielszenen nicht verstärken. Ausnahme ist die zur Szene ausgebaute Demütigung, dass Janet de Vigne auf die Verhörfragen in Vogelsprache antworten muss und dies, um dem Tod vielleicht noch zu entgehen, auch tut. Über allem thront dann auch noch der Autor Evreinov auf einem Tennisrichterstuhl und hinterfängt die Spielebenen mit seinen Gedanken zum Theater des Lebens.
Der erfahrene Tobias Beyer mimt außer dem Autor Evreinov auch den Geheimdienstchef Jagoda, den er schön aasig als überlegenen Taktiker anlegt. Er hat eine funkelnde Freude an seinem Doppelspiel als treuer Parteifunktionär und Verräter, der über Stalins Machenschaften Dossiers führt. Leider ist ihm Thomas Behrend als Stalin ein wenig auratischer Widerpart. Der Text wirkt aufgesagt, wo die Überlegenheit und der diabolische Witz dieses Machtzynikers strahlen müssten. Besser fügt er sich in die Rolle des verfolgten Bucharin.
Diese Doppelbesetzungen bringen aber auch Verwirrung, etwa wenn Ana Yoffe energisch die oppositionelle Schwester der Schauspielerin Zinaida spielt und ihre Lebenslügen entlarvt, dann aber plötzlich an Stalins Seite den beunruhigenden Ezov geben soll, ohne dass mit Kostümen geholfen würde. Als Oppositionelle steigert sich Yoffe in eine feurige Vision des Sturzes der Machthaber, während Alina Tinnefeld als Zinaida zwischen Schauspielerinneneleganz und (gespielter) Mutterschaft in jeder Hinsicht kollaboriert. Die eigentlich am Kamin spielende Szene, wenn sie Stalin Jagodas Dokumente aushändigt und sich so durch Selbstbezichtigung zu retten sucht, hätte man gern in diesem Feuerschein gesehen! Evreinov hat Gespür für Intrige und (theatrale) Situation. Aber er wird regiebedingt auf karge Schwarzweißfilme reduziert.
Mit ganz anderer Körperlichkeit beindruckt der belarussische Performer Andrey Urazov als Radek, ein Denunziant und Denunzierter, barfüßig immer in Bewegung, immer kurz vorm Kippen, wieselflink sich unter dem Vorhang in die Filmszenen hechtend, plappert er in eiligem Russisch (das auf Projektionen übersetzt wird) seine An- und Entschuldigen, dass man ihn rein körperlich zu verstehen glaubt. Ein gehetztes Reh, das für keine Seite richtig greifbar, aber auch nirgends sicher ist. Diese performative Kraft aber haben die anderen Kollegen der freien Gruppe nicht.
So bleibt diese Uraufführung im Einsatz der Mittel und den Kapazitäten der Teilnehmenden ziemlich disparat. Eindringlich bleibt Antonina Romanovas Schlussappell aus der Ukraine: Auch wir Zuschauenden müssen in dem aktuellen Prozess um die Freiheit der Ukraine unsere Rollen finden. Geschichte ist nie vorbei.