Foto: Das Ensemble zertrümmert Eis in „Krummer Hund“. © Sinje Hasheider
Text:Antonia Ruhl, am 25. Oktober 2021
Daniels Welt bröckelt. Der Vater ist spurlos verschwunden, die Mutter seitdem mit ständig wechselnden, unglücklichen Liebesbeziehungen beschäftigt. Nun ist auch noch sein Hund Ozzy tot – eingeschläfert ausgerechnet vom „Doc“, dem neuen Liebhaber seiner Mutter. Auf die unsicheren, verlustreichen Bedingungen seines Lebens reagiert Daniel mit wütenden „Explosionen“. Dann strömt Hitze durch seinen Körper, die Brust wird eng, alles wird gleißend hell. Daniel verliert die Kontrolle und es passiert: schier hemmungslose Gewalt gegen Dinge und Menschen.
Die Instabilität ihrer Lebenswelten mussten Jugendliche in den letzten eineinhalb Jahren kollektiv erfahren. Wie weitreichend Isolation und Homeschooling die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigt haben und beeinträchtigen, lässt sich erst nach und nach abschätzen, etwa durch Daten zu massiv angestiegenen psychischen Erkrankungen. Es bleibt zu hoffen, dass das Theater und andere Orte ihre gemeinschaftsbildende und kreativitätsfördernde Kraft bald wieder uneingeschränkt verschenken können.
In diesem Sinne überschneiden sich am Berliner Jungen Staatstheater / Theater an der Parkaue zum Spielzeitbeginn 2021/22 die Neuanfänge. Das Haus öffnet endlich wieder – und zwar in einer sanierungsbedingten Ersatzspielstätte gleich neben der gewohnten. Hier präsentiert sich das neue Intendanz-Duo mit Christina Schulz, ehemaliger Leiterin der Bundeswettbewerbe der Berliner Festspiele, und dem Regisseur Alexander Riemenschneider, der auch für die erste Inszenierung verantwortlich zeichnet. In der ersten Saison unter gemeinsamer Leitung wollen sie verschiedene künstlerische Handschriften ebenso wie eine ausgebaute Partizipation von Kindern und Jugendlichen ermöglichen. Letzteres beginnt schon mit der Einladung zu einem digitalen Nachgespräch in Chatform.
Als geübter Romanbearbeiter hat Riemenschneider nun zusammen mit der Dramaturgin Liat Fassberg den frisch erschienenen, preisgekrönten Erstling von Juliane Pickel für die Bühne adaptiert: Mit „Krummer Hund“ schafft Pickel auf knapp 260 Seiten unglaubliche Handlungsdichte, tragische Verkettungen und abgründige Figuren, die ihre komplizierten, feinsinnig erdachten Beziehungen zueinander angestrengt verhandeln müssen. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive Daniels, der sich als empathischer Freak erleben lässt, dessen hilflos-wütendes Scheitern am ‚Normalen‘ einem leidtun kann. Dessen Zähigkeit und ungezügelte Energie aber wohl oder übel beeindrucken.
Vom Schmelzen
Die fünf neu engagierten Ensemblemitglieder Jessica Cuna, Claudia Korneev, Tenzin Chöney Kolsch, Nicolas Sidiropulos und Kofi Wahlen nähern sich in gleichen Anteilen dieser Figur wie dem restlichen Personal an, skizzieren, deuten an, spielen manche Konflikte aber auch mit vollem Einsatz aus. Gegenseitig tragen sie sich durch die Erzählung, werfen sich rhythmisch abgestimmt die Textbälle zu, unterstützt durch den Musiker Tobias Vethake, der mit E-Gitarre und E-Cello stets die passende Atmosphäre kreiert, von bedrohlich bis zärtlich. Johanna Pfaus Bühnenbild lässt tief in Daniels (Innen-)Welt blicken und spielt überzeugend mit den Grenzen zwischen Beständigem und Fluidem, Geordnetem und Chaotischem. Mathematische Gleichungen sind mit Kreide auf den Boden geschrieben, denn Daniel liebt die ihm so oft entzogene Berechenbarkeit der Dinge. Verstörende Zeichnungen wie ein gefangener Wal verteilen sich über den Raum, in der Mitte steht ein übermenschengroßer OZZY-Schriftzug aus zum Teil echtem gefrorenen Eis.
Denn auch was fest scheint, kann sich verflüssigen. Das ist in „Krummer Hund“ eine besonders eindrucksvoll zu erlebende Lehre. Mehrfach werden Eisblöcke auf den Boden geschmettert, zerspringen in tausend Stücke und schmelzen anschließend langsam. In diesen Momenten rüttelt der ansonsten Well Made-Abend auf, geht ein reales Risiko ein, das der überschäumenden Lava in Daniels Innerem gerecht wird.
Über die Entwicklung der Figurenbeziehungen sei an dieser Stelle nur gesagt: Es ergeben sich überraschende Bündnisse, die zu Loyalitätskonflikten führen und die Fronten verschieben. Zu guter Letzt scheinen Möglichkeiten auf, das eigene extreme Verhalten anderen gegenüber auszudrücken und damit selbst etwas mehr Macht über und Akzeptanz für sich zu erlangen. Das rührt zwar nicht allein die Darstellerinnen und Darsteller zu Tränen. Es wirkt letztlich aber doch so, als trüge der jugendliche Protagonist einen pädagogischen Kompass in sich.