Foto: Szenenbild aus den "TroerinnenG" am Staatstheater Nürnberg. Im Vordergrund Annette Büschelberger als Hekabe © Konrad Fersterer
Text:Dieter Stoll, am 8. Oktober 2018
Großartige Antiken-Überschreibung und Ergänzung am Staatstheater Nürnberg: Euripides „Troerinnen“ in Kombination mit Konstantin Küsperts „Poseidon-Monolog“.
Gott ist ja bekannt für seinen Zorn, aber wann hat er schon öffentlich je so direkt jenseits aller Bibelfestigkeit „diese verfluchte Menschenbrut“ verdammt. Diese „Massaker an Massaker reihenden“ Machtmonster-Geschöpfe, die – je nach Reifegrad der gerade gültigen zeitgeschichtlichen Ego-Trips – „wegen Öl oder Stolz oder einer einzelnen Frau“ die Welt der Andern in Schutt und Asche legen. „Ihr Idioten seid doch selber sterblich“ ruft der hohe Herr seiner geschwundenen Autorität hinterher in den leeren Raum – gleich nachdem er sich erst mal mit irritiertem Blick auf die steil abfallende abstrakte Bühne etwas gewundert hat: „Wer hat denn das hier gebaut?“. Ausstatterin Marie Roth war es, und die zwanghaft abschüssige, sozusagen untergangsaffine Strecke mit Figuren ausspuckender Klapptür ganz oben und alles verschlingendem Höllenschlund weit unten, ist als Raum und Metapher schon für sich ein starkes Stück. Der Meeresgott, mit offener Smokingschleife und knitterndem Gesichtsausdruck offenbar direkt von einer überirdischen Party zur sarkastischen Trauerbegleitung in die Ruinen seiner Lieblingsstadt Troja geeilt, holt zum „Poseidon-Monolog“ aus: Michael Hochstrasser setzt zielsicher die Worte wie Giftpfeile für offene Wunden. Diese Einstimmung ins Unfassbare ist die ergänzende Uraufführung in Jan Philipp Glogers Nürnberger Euripides-Projekt um „Die Troerinnen“, im Kern eine Adaption der Karlsruher Produktion vom April 2016. Monolog-Autor Konstantin Küspert war da bereits für die von lakonischem Witz in ständiger Explosionsgefahr unterminierte Übersetzung und Verknappung zuständig, ergänzte jetzt mit minimalistischer Maximal-Resignation aus berufenem Mund: „Da kann ich nur sagen, hoffentlich wars das wert!“. Eine Neuaufbereitung mit Umbesetzungen ist es auf alle Fälle, denn abgesehen davon, dass der neue Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg mit dem Ausbau des eigenen Spielplans eine tief klaffende Antiken-Lücke im lokalen Repertoire schließt (nur Georg Schmiedleitners „Orestie“ von 2010 blieb da aus Jahrzehnten eine Erinnerung), wäre es schade um das Verschwinden dieser maßstabsetzenden Inszenierung. Sie ist und bleibt atemberaubend.
Die Zivilisation und das, was man dafür hält, sind schon rettungslos verloren, wenn die alte Königin von Troja noch mit gerafftem Pathos um Fassung ringt. Die kämpferische Dame in eleganter Design-Verpackung, die Hermès-Handtasche nach Thatcher-Technik wie eine Handfeuerwaffe an den Busen gedrückt, stimmt das Klagelied an als wär´s die letzte Chance zur großen Rechtfertigungs-Arie. Und das ist es ja auch. Annette Büschelberger, die wohl schon bei ihrer zweiten Premiere weit auf dem Weg ist, ein Nürnberger Bühnen-Star zu werden, lässt als Hekabe übungshalber ein räusperndes Krächzen hören, quasi die Heiserkeit der Macht, ehe sie gewaltsam den Aufschwung zum Absturz packt. Sie rafft die Reste dessen, was sie amtlich für Würde hält und bricht dabei immer wieder, immer krachender in sich zusammen. Tochter Kassandra im Verzweiflungs-Brautkleid (Pauline Kästner baut einen Schutzwall von hysterischem Gelächter) klammert sich an Rache-Ahnungen. Die eher pragmatisch ums Irgendwie-Überleben kämpfende Schwiegertochter Andromache (Julia Bartolome zeigt gekonnt impulsiv eingesetztes Verzweiflungs-Drama) wirft sich auf ihren todgeweihten Jungen wie auf die letzte Erinnerung an bessere Zeiten. Vom Kind, dem schrecklichsten aller Menschen-Opfer, bleibt für herzende Abschiedsumarmungen letztlich nur der gefüllte Leichensack. Ein Bild, das man nicht mehr los wird.
Den Männern ist in diesem 90-Minuten-Reflex von berstender Frauen-Power in Abwicklung nur jämmerliche Anmaßung und die alles überwuchernde institutionalisierte Gewalt vorbehalten. Thomas Nunner reflektiert mit wankender Körpersprache als schnaubender Menelaos diese Melange aus Barbarei und Hilflosigkeit fabelhaft genau. Unübertrefflich aber Sascha Tuxhorn, wie er den Boten Talthybios zum Repräsentanten der jederzeit elastischen Fremdmeinung macht, zum überzeitlich lachhaften „Behördenkasper“ mit dem Achselzucken im öffentlichen Dienst. Ein Entschuldigungen murmelnder Schreibtischtäter für den Außen-Einsatz, durchpulst von untrennbar verbundener Tragik und Komik, als sei er das personifizierte Trafohäuschen dieser wunderbar auf den Energiepunkt gebrachten Inszenierung.
Alle Personen aus der Antike sind Figuren, an deren Gegenwärtigkeit nie Zweifel aufkommen. Von daher ist die Kostümierung in aktuellen Mode-Standard so wenig problematisch wie die noch im Ausbruch zum Schnodder-Slang („Mutti, das ist jetzt aber Quatsch“) ganz bei der Sache bleibende Übersetzung. Regisseur Gloger jagt mit den Schattenspiel-Videos von Sami Bill, in denen auch massenhaft Kakerlaken wimmeln, traumatische Effekte über die Oberflächen des Unterbewusstseins, aber der Sprache und den Schauspielern gehört dabei immer seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Jeder Darsteller ein eigenes Kunstwerk, alle zusammen ein mächtiges Denkmal-Bild. Daraus entsteht nervenkitzelnde Thriller-Spannung, die bis zum finalen Sturz in den unwiderstehlichen Sog des Untergangs anhält. Man konnte es bei der Premiere auch in Schrecksekunden messen, am Schock, also daran, wie lang die Pause nach dem Blackout bis zum einsetzenden Beifall war.